Der kleine Nazi
Wenn das Verpfeifen von Bürgern, die gegen die Corona-Maßnahmen verstoßen, zum guten Ton gehört, breitet sich ein Klima von Misstrauen und Unfreiheit aus.
von Marcus Klöckner bei Rubikon
Die Maßnahmen der Regierungen gegen das Coronavirus lassen das Denunziantentum (1) wiederaufleben. In einer Zeit, in der die bedingungslose Akzeptanz der „neuen Normalität“ von „verantwortungsbewussten“ Bürgern als Selbstverständlichkeit betrachtet wird, wittert ein bestimmter Typus Mensch Morgenluft. Dort, wo klare Regeln von allerhöchster Stelle vorgegeben werden, aktiviert sich seine Aufmerksamkeit. Rasch, so ist es in ihm angelegt, fährt sein spezielles „Betriebssystem“ hoch. Er erkennt, dass die Bühne für ihn bereitet und sein Einsatz gefragt ist. Der kleine Nazi lebt auf.
Wie kann es sein, dass dort unten an dem kleinen See ein Auto mit einem Kennzeichen von außerhalb parkt? Befinden sich in der Nachbarswohnung mehr Personen, als erlaubt? Ist in dem Lebensmittelladen um die Ecke tatsächlich ein Bürger ohne Maske unterwegs?
Wenn der kleine Nazi „Regelverstöße“ dieser Art beobachtet, dann fällt es ihm schwer, sich zurückzuhalten. Im besten Falle lässt er dem „Übeltäter“ eine Nachricht zukommen, auf der etwa das Folgende zu lesen ist:
„Es ist mehrfach aufgefallen, dass bei Ihnen ein fremdes Fahrzeug parkt. Dies ist, wie Sie sicherlich wissen, aufgrund der aktuellen Situation nicht erlaubt. Ich empfehle Ihnen, diese Regelung zu akzeptieren — in unser aller Interesse! Sollte weiterhin zu beobachten sein, dass Sie gegen die Ordnung verstoßen, wird dies dem Ordnungsamt und der Polizei mitgeteilt.“
Im schlimmsten Fall greift der kleine Nazi direkt zum Hörer und ruft bei der Polizei an, um seine Beobachtung mitzuteilen — natürlich anonym. Seine aufgeregte Stimme vermittelt den Beamten: Hier muss es um einen dramatischen Vorfall gehen. Und dann folgt der Report, so akkurat vorgetragen, dass so mancher Führer stolz wäre:
„Auf dem Spielplatz in der Kaiserstraße, da treiben sich zwei Frauen rum. Mit ihren Kindern! Die eine heißt Müller, die andere Meyer. Ihre Kinder heißen Jan, Anne und Sandra. Das ist nicht das erste Mal. Kommen Sie schnell vorbei. Das geht so nicht!“
Während sich die Polizei am anderen Ende der Leitung oftmals ob der Nichtigkeit des gemeldeten Vorfalls ein Seufzen nicht verbergen kann, wechselt der kleine Nazi langsam, aber sicher in den Befriedigungsmodus. Er hat es getan! Welch ein mutiger Akt.
Denunzieren aus sicherer Entfernung
Die Befriedigung des kleinen Nazis kennt dann keine Grenzen mehr, wenn er mit eigenen Augen — aus der sicheren Entfernung seiner Wohnung, hinter dem Vorhang am Fenster — beobachten kann, wie die Gesetzeshüter Ordnung herstellen.
Müssen die beiden Frauen sich nun etwa vor der Polizei rechtfertigen? fragt er sich. Es sieht ganz danach aus. Jetzt, endlich, geht es ihnen an den Kragen. Sie verlassen tatsächlich, unter Begleitung der Polizei, den Spielplatz. Nun hat der kleine Nazi seine volle Befriedigung.
Wer sich mit dem Typus des kleinen Nazis näher beschäftigt, erkennt schnell, dass sein Handeln vorgeblich immer von edlen Motiven geprägt ist. Ihm geht es um Anstand, um Recht, um den Schutz seiner Familie, seiner Mitmenschen und letztlich, ja, um den Schutz des gesamten Landes, ja, sogar um den Schutz der ganzen Welt. Wer wollte ihn bei derlei ehrbaren Motiven ernsthaft kritisieren?
Der kleine Nazi — das muss man ihm lassen — versteht es, seine Hände in Unschuld zu waschen. Es wäre eine infame Unterstellung, zu behaupten, der kleine Nazi verpfeife deshalb Bürger, weil er eine teuflische Freude daran habe, unter Rückendeckung der vorherrschenden Ordnung als Heckenschütze aktiv sein zu dürfen.
So wie der „gute“ Bürger, der damals, in einer Zeit, die zunächst von viel Euphorie und Größenwahn, und dann von Heulen und Zähneklappern geprägt war, seinen jüdischen Mitbürger nur deshalb denunziert hat, weil er „wusste“, dass der Jude — ganz allgemein, so an und für sich — ein ganz übler Gesell und dazu auch noch „von Haus aus“, ein TBC-Überträger, sprich: ein „Volksschädling“ war, so schwärzt der kleine Nazi unserer Zeit seine Mitmenschen nur deshalb an, weil er Schlimmes verhindern möchte. Schließlich geht es ihm doch nur um Infektionsschutz. Wer‘s glaubt!
Der Denunziant hat seine Augen überall
Der kleine Nazi ist ein Großmeister der Täuschung. Er gefällt sich mitunter besonders gut in der Rolle gegen Nazis, gegen rechts zu Felde zu ziehen. Nie wieder Faschismus! sagt er gerne voller Überzeugung. Oft ist er überzeugter Wähler etablierter Parteien. Der kleine Nazi weiß in der Regel von den Gefahren des Klimawandels, weiß genau, wie man sich ökologisch korrekt verhält — auch wenn er selbst dem nicht immer nachkommt — und gehört manchmal dem juste milieu an, das heißt jenem Kreis von Menschen, die die einzige wahre Wahrheit mit der Muttermilch aufgesaugt haben.
Wo ein Hang zum Autoritären zu finden ist, lauert der Faschismus.
Norm- und regelfixierte Bürger richten sich mit großer Vorliebe an der jeweils von oben vorgegebenen Ordnung aus. Sie erwarten, dass alle anderen die jeweils vorherrschenden Regeln akzeptieren, wie sie es selbst tun. Verstößt jemand dagegen, ruft der kleine Nazi rasch nach der mit Härte durchgreifenden Staatsmacht. Ist der Staat bei einem Ordnungsverstoß nicht zur Stelle, fühlt er sich berufen, als Vorhut staatlicher Ordnungshüter in Erscheinung zu treten. Und dafür, dass muss man ihnen lassen, sind die kleinen Nazis außerordentlich gut geeignet. Sie verfügen über eine Stärke, die für ihre Absicht sehr hilfreich ist. Sie sind in der Lage, ihre Aufmerksamkeit selbst während der Erledigung ihrer Alltagsgeschäfte auf Ordnungsverstöße zu richten. Sie verfügen über feine Sensoren, die ihnen sofort mitteilen, wenn die Ordnung, die für sie zu einer Art Fetisch geworden ist, von einem ihrer Mitbürger missachtet wird.
In vorauseilendem Gehorsam übernimmt der kleine Nazi aus eigenem Antrieb die Perspektive der Behörden. Nein, als oftmals sogar intelligenter und sehr gebildeter Bürger, „denkt“ er stellvertretend für die Ordnungsgeber mit. Hat er etwa einen seiner Mitbürger beobachtet, der es sich herausnimmt, trotz Verbot zum Sonnenbaden allein auf eine Wiese zu legen, bahnen sich bei ihm geradezu kaskadenhafte Gedankengänge ihren Weg.
Was, wenn sich noch ein weiterer Bürger zum Sonnenbaden auf die Wiese legt? Was, wenn so viele Bürger dazu kommen, dass aus der im Grunde genommen harmlosen Situation im Sinne des Infektionsschutzes es doch zu einer Gefahr kommt? Was, wenn der Regelverstoß andere dazu animiert, gegen die Regel zu verstoßen? Und schon hat der kleine Nazi einen Weg gefunden, wie er sein Denunziantentum vor sich und anderen rechtfertigen kann.
Im Laufe der Zeit lernt man den kleinen Nazi besser kennen. Der Blick hinter die Maske des Ritters ohne Furcht und Tadel ist nicht einmal schwer — man darf sich nur nicht von ihm blenden lassen. Immer dann, wenn es wirklich um etwas geht, kann man darauf wetten, dass der kleine Nazi, dessen Augen sonst nicht die kleinste Kleinigkeit entgeht, im drei-Affen-Modus unterwegs ist: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Im „drei-Affen-Modus“ unterwegs
Wenn der gewalttätige Nachbar am Abend seine Frau so durch die Wohnung prügelt, dass die Übergriffe bis auf die andere Straßenseite zu hören sind, dann hört der kleine Nazi, der Tür an Tür mit dem Prügler wohnt, weg.
Rufen Anwohner, die hinhören, die Polizei, kann ein Schmierenstück beobachtet werden, das der „aufrechte“ Bürger aufführt. Die Polizei, die dem kleinen Nazi zwecks möglicher Zeugenaussage gerne ein paar Fragen stellen möchte, muss mehrmals läuten, bis sich die Tür öffnet. Einen großen Kopfhörer tragend erscheint er auf der Bildfläche, schaut gespielt verdutzt aus den Augen, um sodann zu erklären, er habe über den Kopfhörer klassische Musik gehört, nichts mitbekommen.
Der kleine Nazi — er schätzt eben Kultur. Man wird ja nochmal Wagners „Walkürenritt — Hojotoho! Heiaha! (3. Akt)“ hören dürfen?!
Es liegt auf der Hand: Der kleine Nazi ist nicht der aufrichtige Bürger, der er vorgibt zu sein.
Im Grunde genommen ist er ein erbärmlicher Wicht. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, darf dennoch nicht unterschätzt werden. Setzt die Ordnungsmacht erstmal auf ihn und seinen Hang zum Denunzieren, steht nicht nur für den einzelnen Bürger, sondern auch für die Gesellschaft viel auf dem Spiel. Ein Klima von Argwohn, Misstrauen und Unfreiheit breitet sich aus.
Wo in der Menge sind die Denunzianten-Augen? Wer ist wohlgesonnen und wer lauert nur darauf, seine Mitmenschen zu verpfeifen? Aber vor allem: Wie weit würde der kleine Nazi gehen, wenn die Bühne für ihn erst so richtig bereitet ist?
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.mdr.de/nachrichten/panorama/corona-verstoesse-melden-hilfe-oder-denunziation-100.html
Marcus Klöckner studierte Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Herrschafts- und Medienkritik kennzeichnen seine Arbeit als Autor und Journalist. Zuletzt erschienen von ihm „Medienkritik: Zu den Verwerfungen im journalistischen Feld“, „Wie Eliten Macht organisieren“ und „Sabotierte Wirklichkeit: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“.
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