Als es in dieser Pandemie darum ging, die Gleichbehandlung und Fairness im gemeinsamen Durchleiden aller der Bevölkerungs zugemuteten Entbehrungen und Schikanen zu propagieren, war der „Spiegel“ stets an vorderer Front. Besondere Freiheiten für Genesene und Geimpfte, Verschonung von überhaupt nicht durch schwere Covid-Verläufe gefährdete Bevölkerungsgruppen? Ein Tabu und No-Go für die journalistischen Drill Commanders in den Hamburger, Münchner und Berliner Redaktionsstuben und ihre Senderkollegen im ÖRR und Privatfernsehen. Jetzt vollzieht der das Hamburger „Nachrichtenmagazin“, inzwischen Meister im Synchronschwimmen mit der Corona-Politik, eine bemerkenswerte Kehrwende.
Trommeln für die Befolgung der Maßnahmen statt deren Hinterfragung war oberstes Credo für die Haltungs- und Durchhaltepresse, nach dem Motto: Alles Gute kommt von oben, wer sich verweigert oder kritisiert, stellt sich ins Abseits und positioniert sich irgendwo zwischen asozialem Egoismus und verfassungsfeindlichem Querdenkertum. So stand bislang für die meisten „Spiegel“-Redakteure, wie auch ihre Kollegen bei „Zeit“, „Süddeutscher“ und dem „Tagesspiegel“, völlig außer Frage, dass Privilegien für Geimpfte – die ja zugleich Diskriminierungen der (Noch-)Nichtgeimpften bedeuten, ein Unding seien. Die Devise lautete: Es gibt eine Reihenfolge, an die hat sich jeder zu halten – und erst wenn jedem zumindest die Möglichkeit gegeben wurde, sich immunisieren zu lassen, kann man über Erleichterungen sprechen.
Noch im Dezember hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kategorisch Sonderrechte für Geimpfte ausgeschlossen; auch seine Kabinettskollegin, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, tönte, Privilegien für Geimpfte verböten sich, solange „nicht allen ein Impfangebot“ gemacht werden könne. Es sei daher „ein Gebot der Fairness und der Solidarität, Sonderrechte weder einzufordern noch anzubieten„. Der „Spiegel“ warnte dazu passend unheilvoll: Sollten Geimpfte tatsächlich weiterhin ansteckend sein, dann könnten Lockerungen für sie zu „möglicherweise zu höheren Infektionszahlen“ führen – und seien alleine schon „epidemiologisch wenig sinnvoll„.
Gestern Hü, heute Hott
Wie man dies inzwischen ja gewohnt ist (und woran sich kein Deutscher bis heute zu stören scheint), drehte die Bundesregierung, gedrängt von immer mehr Landesregierungen, auch hier ihren Standpunkt bekanntlich binnen weniger Monate um 180 Grad – und tritt nun vehement für Sonderrechte für Geimpfte ein. Und das, obwohl das zuvor angeblich zwingend erfolgte „Impfangebot für jeden“ noch lange in den Sternen steht; selbst wenn die Registrierungspflicht nach Prioritätslisten ab Juni wegfallen wird, heißt dies noch lange nicht, dass jeder Impfwillige auch gleich geimpft werden kann. Er erhält allenfalls einen Termin – womöglich erst in mehreren Monaten, was beim aktuellen Impftempo (zwischen 600.000 und 1 Million Impfungen pro Tag, nötig wären für alle Deutschen theoretisch noch bis zu 130 Millionen Impfungen) schon rechnerisch gar nicht anders möglich ist.
Und wie reagiert nun der Spiegel? Natürlich vollzieht er dieselbe Kehrtwende wie die Regierung – und macht ab sofort Stimmung für die Freiheiten Geimpfter. Gegner der Lockerungen sind ab sofort Impf-Neider, die „Geimpften die Freiheitsrechte missgönnen„, so Melanie Amann in ihrem Leitartikel vergangene Woche. Dass sich die Politik „mal wieder keine klare Entscheidung“ zutraue, sei „beschämend und gefährlich„. Also immer grade so, wie es dem Zeitgeist und Corona-Regime in den Kram passt. (DM)