In meiner Heimatstadt wird gerade eine Lokalposse geschrieben. Montagsdemos wie in der DDR? Herbolzheim verbietet Spaziergänge. Demonstration fand statt – eine Machtdemonstration der Polizei!
Von Albrecht Künstle
Zustände wie in der DDR? Nein es ist schlimmer: Hier kamen Montagabends ein paar Leute zu einem Spaziergang zusammen, um über „Gott und die Welt“ zu reden, einfach wieder mal im Freien coronagefahrlos Andere treffen zu können. Wohlgemerkt ging es um keine Montags-Demo wie in der DDR, der Anfang vom Ende der nur dem Namen nach Demokratischen Republik.
Befürchten die Stadtoberen einen solchen Umsturz, weil die Spaziergänge ebenfalls am Montag stattfanden? Man könnte auch meinen, die Ratsherren samt ihrem Bürgermeister befürchten einen Sturm auf die Herbolzheimer Bastille. Den Namen wähle ich nicht zufällig, weil unser Rathaus ähnlich verrammelt ist wie die Pariser Bastille. Nur wer angemeldet ist und die Regeln kennt hat Zutritt. Oder hat man Angst, man erwischt die Beschäftigten ohne Anmeldung bei dem, was sie tun sollen? Denn verwalten tun sie die Bürger, und wie fleißig:
Das Herbolzheimer „Ordnungsamt“ verfasste eine 16seitige „Allgemeinverfügung“ speziell für diese durchschnittlich 16 Leute des Stadtrundgangs. Sie ist eher eine Allgemeinverfehlung; sierichtet sich speziell gegen diese Teilnehmer/innen, nicht an die Allgemeinheit. Denn sie wurde nicht prophylaktisch allgemein verfasst, sondern als ein Verbot, am Montag 31. Mai einen Spaziergang machen zu dürfen. Und: Sie wurde nicht vom Bürgermeister selbst unterzeichnet; das überließ er einem Stellvertreter. Durch diese Verfügung wurde die Polizei verpflichtet, einzugreifen und empfindliche Bußgelder zu verhängen. Nachdem diese offensichtlich auf geheimdienstliche Art und Weise zusammentrug, wer wen wie eingeladen hat. Und ob überhaupt eingeladen wurde.
Dass keine Masken getragen wurden, war ein besonderer Aufreger des Ordnungsamtes. Dabei sieht die Landesverordnung Baden-Württemberg im Freien keine Maskenpflicht vor. Die 15 enumerativ aufgelisteten Fälle der Maskenpflicht gelten für geschlossene Räume, außer auch auf Bahnsteigen und evtl. Fußgängerzonen. Aber Herbolzheim ist eine Industriestadt in der gearbeitet wird und kein Bedarf besteht für eine Fußgängerzone.
Mich wundert, dass unsere Karnevalsgesellschaft nicht gegen die politische Maskerade zu Felde zieht. Sie müsste das eigentlich, wenn ihnen die Butter vom Brot genommen, das Maskentragen in die narrenfreie Zeit verlegt wird. Hoppla, was sagte ich da, „narrenfreie Zeit“? Na ja. Die Garde der Karnevalsgesellschaft hätte das Zeug für einen Feldzug: Sie hat in ihrem Arsenal nicht nur Holzgewehre, sondern auch eine historische Kanone. Aber Satire beiseite:
Der Vorgang wäre gutes Anschauungsmaterial für die Aufarbeitung im Unterricht der Schulen. Und zwar für die Fächer Rechnen und das Wahlfach „Gesunder Menschenverstand“. Ach, gibt’s gar nicht? Eine Lokalposse in einer Zeit, in der man Corona nur noch vom Hörensagen kennt. Während ich dies schrieb, meldete die Regionalzeitung zu unserem Landkreis Emmendingen: Inzidenz bleibt die niedrigste im Land – und versteckt diese gute Nachricht hinter der Bezahlschranke. Die Inzidenz betrug zuletzt noch 16 und 15, also 2 positive PCR-Test-Tests am Tag. Der Landkreis merkte, dass man die erfreuliche Entwicklung nicht mehr verheimlichen kann und erlaubte ab sofort Ansammlungen von 250 Personen im Freien und 100 in geschlossenen Räumen. Und die Stadt Herbolzheim macht sich bei weniger als 20 Leuten in die Hose?
In Herbolzheim gibt es noch zwei positiv getestete Personen (aus Kreiszahlen abgeleitet), von denen eine Symptome haben könnte. Und diese ist mit Sicherheit nicht auf der Straße, auf der man ihr begegnen könnte. Sollte diese Person trotzdem „Freilauf“ haben, sind Kontakte von unter 15 Minuten unschädlich, im Freien erstrecht. Was will die Verwaltung eigentlich, außer unter Beweis zu stellen, dass hinter Rathausmauern oder daheim per Homeoffice noch gearbeitet wird?
Welche Allgemeinverfehlungen liegen noch in den Schubladen des Rathauses? Gegen Schüler, die in Gruppen vom Bus zur Schule gehen? Gegen Arbeiter, die in der Mittagspause zusammen zum Kiosk laufen? Gegen Kirchenbesucher, die nach dem Gottesdienst zusammen heim gehen?
Die Verbotsmentalität, die sich zu Beginn der Infektionen breit machte, will auch am Ende des Spuks nicht aufhören. Sie sind einer NDR (Noch-Demokratische-Republik) nicht würdig. Die Polizei war das letzte Mal zu viert da, und will ihre Präsenz noch erhöhen. Und kündigte Bußgelder an, die da wären: 70 EUR,wenn sie jemanden unter 1,5 m Abstand sehen, 150 EUR für jeden für das gemeinsame Spazieren gehen,200 oder 350 EUR wegen des verhängten Teilnahmeverbots. 350 EUR für den „Rädelsführer“, der den Mindestabstand nicht gewährleisten konnte. Ja, Spaziergänge können teuer werden.
Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse. Die Herrschaften haben Wind bekommen, dass ich im Krankenhaus bin und meine Hände gebunden sind – außer zum Schreiben. Und das tun sie hiermit. Wer sich erkundigen will oder eine Meinung zu der Posse hat, findet hier Informationen und Kontaktmöglichkeiten:
Örtliche Corona-Infos
Herbolzheimer Ordnungsamt
Diesen Artikel habe ich auf Wunsch einer Teilnehmerin nicht verbreitet, weil sie hoffte, einfach wie bisher wieder ungestört spazieren gehen zu können und niemanden auf den Plan zu rufen. Doch deren Hoffnung lösten sich jäh in Luft auf, genau das Gegenteil trat ein …
Nachtrag vom 1. Juni 2021 mit vorweg genommenem Statement
- Es lohnt nicht mehr, mit Ordnungsbehörden Einvernehmen zu suchen
- Polizeikräfte haben offensichtlich keinen Handlungsspielraum mehr
- Ohne Öffentlichkeit keine schlafenden Hunde zu wecken gescheitert
- Auf Werbung zu verzichten, um keine Reaktion auszulösen, brachte nichts
So begann und endete der geplante Montagsspaziergang von fünf Leuten am Abend des 31. Mai:
Ein Aufgebot von elf Polizisten, zwei Mannschaftswagen und einem Auto hinderten nicht nur fünf auf einer großen runden Bank wartende auf weitere Spaziergänger wartende daran, gemeinsam eine Runde zu drehen. Die zwei Mannschaftswagen wurden dem Vernehmen nach aus Bruchsal (Gefängnisstadt) herbeordert, weil wir gar nicht so viele böse Menschen haben, dass wir so viel Polizei brauchen. Aus 130 km Entfernung! Aber für die „guten Sache“ Seuchenbekämpfung oder Bekämpfung von vermeintlichen Corona-Leugnern spielt Klimaschutz plötzlich keine Rolle mehr. Zuvor hatte ich über eine Mail mit dem Bürgermeisterstellvertreter und dem Chef der Polizei versucht, diese zu bewegen, ihrer eigentlichen Arbeit woanders nachzugehen. Als ich noch DGB-Kreisvorsitzender war, erlebte ich die Gewerkschaft der Polizei an der Seite der Vernunft. Man konnte vor Aktionen noch mit ihnen Arrangements treffen, Taktisches und sogar Strategisches besprechen, was positiv für alle Beteiligten war – aber heute… Was ist aus unserer Polizei geworden? Welche Kräfte spannen sie vor ihren Karren?
Diese Handvoll Leute wurden nicht nur am Aufbrechen gehindert, einer soll sogar verhaftet worden sein, musste ich aus der Ferne (noch im Krankenhaus) erfahren. Es ist vollkommen unverständlich, worauf sich die Stadt und ihre polizeiliche Hilfstruppe stützt. Denn gemäß den Öffnungsstufen des Landes, veröffentlicht vom Gesundheitsamt Emmendingen „dürfen sich wieder zehn Personen aus maximal drei Haushalten treffen…“ Hätten sich diese irgendwo „legal“ daheim getroffen, gilt die Abstandsregel nur als Sollvorschrift und es besteht keine Maskenpflicht. Und in gleicher Zusammensetzung draußen an der frischen Luft mit geringerer Infektionsgefahr rasten die Herrschaften aus? Kein Wunder, dass einen allerlei Gedanken beschleichen.
Herbolzheim liegt nicht weit von Emmendingen mit seinem Zentrum für Psychiatrie. Was jemanden veranlasste zu posten „haben die in Emmendingen die Anstalt aufgemacht und die Patienten in Uniformen gesteckt?“ Nein das war nicht der Fall, was aber dann? Jedenfalls muss man sich jetzt schämen, ein Herbolzheimer Bürger zu sein. Wäre ich im Stadtrat, würde ich das Amt niederlegen. Und hätte ich eine Wahl, würde ich mir ein anderes Kfz-Kennzeichen zulegen als EM.
Menschen fest im Griff – mit Körpereinsatz oder per Überwachungskameras und Cybertechnik. Zufällig schaute ich am späten Abend des denkwürdigen Tages eine ebenso denkwürdige Sendung über den chinesischen Weg der Gängelung der Menschen an. Dort hätte ein einziger Aufpasser am Monitor sitzend gereicht, das Grüppchen über die allerorten installierten Kameras in der ganzen Stadt zu verfolgen, über Gesichtserkennung die Personalien festzustellen und dem persönlichen Verhaltenskonto Minuspunkte zu verpassen. Die dortige Ordnungsmacht macht sich nicht mehr mit auffälligen Mannschaftswagen und großem Personaleinsatz unbeliebt. Die dort durch Überwachungstechnik freiwerdenden Polizisten gehen produktiven Beschäftigungen nach, was uns hier wirtschaftlich das Fürchten lehrt. Welcher Weg der Repression wohl angemessener ist? Freiheitlich ist keiner und verwerflich sind sie beide!
Ich gehörte bisher zu jenen die mehr Polizei forderten. Aber dafür? Nein, sie hätte genug andere und sinnvollere Arbeit. Am gleichen Montag 31. Mai meldet die Polizei für Herbolzheim: „Bewohnerin entdeckt Einbrecher bei der Tat, er konnte aber flüchten. Eine sofort durch die Polizei eingeleitete Fahndung blieb ohne Ergebnis. Die Kriminalpolizei bittet um Hinweise, Tel …“ Liebe Polizei-Elf, habt ihr nix gesehen? Nein, man kann die Augen halt nicht überall haben, auf Spaziergänger vor den Häusern schielen und gleichzeitig in den Hinterhöfen nach dem Rechten schauen. Also meine Sympathie hat die Polizei auf absehbare Zeit verscherzt.
In dieser Mannschaftsstärke zu elft sollte sie das nächste Mal auf einem Fußballplatz gegen die Merkel-Elf spielen, die uns das Meiste eingebrockt hat. Was allerdings nicht möglich wäre, würde sie nicht allerorten zigtausende Gefolgsleute-innen hätte. Das wäre doch geeignetes Material für die Herbolzheimer Karnevalsgesellschaft. Oder wird man auch der das dritte Mal das Maul stopfen und über die nächste Fasnacht erneut einen Lockdown verhängen?
Bei Redaktionsschluss war noch kein Polizeibericht zum Montagabend zugänglich. Hoffentlich nicht deshalb, weil solche Polizeiaktionen zur Routine geworden sind oder weil die Öffentlichkeit nichts darüber erfahren soll? Oder ist einfach zu peinlich zu berichten, wie mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde. Jedenfalls dürften mit Sicherheit Bußgelder verhängt worden sein – um einen Teil des unnötigen Polizeieinsatzes zu refinanzieren? Um eine finanzielle Unterstützung der Opfer möchte ich nicht bitten, weil von ihnen sogar publizistische Unterstützung meinerseits unerwünscht war. So verängstigt sind Menschen dieses Landes inzwischen.