Social Credit (Bild: shutterstock.com/Akarat Phasura)
Social Credit (Bild: shutterstock.com/Akarat Phasura)

Von China lernen?

Das Sozialkreditsystem kommt nach Europa. Was wir tun können und auch müssen.

Ein Beitrag von transition-news

Im November 2019 kehrte ich nach vier Jahren (ich hatte zwischen 2011 und 2015 dort gelebt) wieder nach Shanghai zurück. Ich wusste aus Erzählungen, dass sich in dieser Zeit viel verändert hatte: Propaganda und Zensur hatten zugenommen, Patriotismus und Nationalismus ebenso. Gleichzeitig, erzählten mir Freunde, sei alles irgendwie sauberer und „zivilisierter“ geworden. Was mir sofort auffiel, war der Verkehr: Fahrer, die vor noch vier Jahren nahezu jede Verkehrsregel ignoriert hatten, hielten plötzlich vor einem Zebrastreifen an, um Fußgänger passieren zu lassen. Das wirkte fast schon pedantisch. Was war der Grund?

Zunächst mal hatte die Zahl der Überwachungskameras massiv zugenommen. Keine Straßenkreuzung in Shanghai kam mit weniger als vier Kameras aus. Wer über eine rote Ampel fährt, wurde erfasst, und das Bußgeld teils abgebucht, da die Nummernschilder mit Personendaten und Payment-Apps verknüpft sind. Einige Ampeln hatten auch ein „Public Shaming“-Element: Wer bei Rot über die Ampel ging, dessen Porträt wurde auf einen Screen für alle sichtbar gemacht. Später sprach ich mit einem Professor für Stadtentwicklung darüber. Er sagte, dies sei erst der Anfang. In den kommenden Jahren soll das ganze Land mit Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware zugepflastert werden.

bildschirmfoto 2022 05 09 um 11.38.38Eingang meines ehemaligen Compunds in Shanghai. Schranke und Kameras gab es fünf Jahre zuvor nicht.

Wer fünfmal bei Rot über die Ampel geht, erhält einen Punktabzug. Das Gleiche gilt für jemanden, der mit den Ratenzahlungen seines Kredits in Verzug gerät, oder von einem Gericht wegen Versicherungsbetrug verurteilt wird. Noch arbeiten die verschiedenen Punktsysteme unabhängig voneinander. Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis sie zu einem zentralisierten System zusammengeführt werden, an dessen Ende der gläserne Bürger steht.

In zahlreichen Städten laufen bereits Pilotprojekte. Jeder Chinese soll mit 1000 Punkten starten und kann durch «gute Führung» maximal 1300 Punkte erreichen. Wer auf 600 Punkte fällt, darf zum Beispiel nicht mehr bei Staatsunternehmen oder Behörden arbeiten oder ihm wird die Reiseerlaubnis entzogen: Allein bis Ende 2018 ist 17,5 Millionen mal der Kauf von Flugtickets untersagt worden.

Noch ist das Social Credit System in China, wie gesagt, im Aufbau: Xinjiang ist dafür das Labor, die Uiguren die menschlichen Versuchskaninchen. Dort werden Bewegungs-, Gesichtsdaten und Daten über emotionale Zustände, die Algorithmen über die Mimik auslesen, miteinander verknüpft, um Uiguren zu überwachen. Da nahezu sämtliche Finanztransaktionen in China heute über die Apps WeChat und Alipay laufen und der Bargeldverkehr auf ein Minimum reduziert ist, wird die «totale Überwachung» in China bis 2030 Realität sein.

Mehr zum Stand des chinesischen Social Credit Systems findet man hier beim Thinktank Merics.

Es gehört zum guten Ton im Westen, alle autoritären Facetten des chinesischen Systems abzulehnen. Das Problem ist nur: Die Währung von demokratisch legitimierten Politkern und Kadern ist dieselbe: Machbarkeit. Wenn etwas machbar ist, erzeugt es eine Faszination.

Gerade weil wir uns fern von jeder Diktatur wähnen und uns für aufrechte, den Menschenrechten verpflichtete Demokraten halten, laufen wir Gefahr, in die Falle zu tappen, und kopieren ein System, das in letzter Zeit niemand so gewollt hat:

Als ich dieses Werbe-Video hier sah und «mandatory vaccine» hörte, dachte ich zunächst, es handele sich um einen Fake. Ist es aber nicht. Wer will, kann sich gerne überzeugen und die Website Thales besuchen.

 

Die Firma wirbt damit, dem Bürger die Kontrolle über seine Daten zu geben, und «Bürger und Staat näher zusammenzubringen». Thales arbeitet an der Verknüpfung von digitaler Identität und Wallet für digitales Zentralbankgeld. Auf der Website heißt es:

Consequently, citizens can benefit from timely reminders on vaccinations, receive details on how to participate in forthcoming elections, and be issued efficiently with driving penalties and endorsements.

In Deutschland ist es vor allem das Unternehmen Giesecke und Devrient, das an digitalen IDs, Impfpässen und Wallets arbeitet. Das Kerngeschäft des mittelständischen Unternehmens war lange Zeit das Drucken von Geldnoten. Mittlerweile sind es digitale Pässe und Central Bank Digital Currencies (CBDCs).

Eine CBDC-Lösung zu entwickeln, ist eine komplexe Aufgabe – und sie sicher zu implementieren, umso mehr. Bei G+D kombinieren wir unser tiefgehendes Verständnis für Finanzsysteme mit Expertise im Aufbau hochsicherer digitaler Infrastrukturen und digitalem Zahlungs-Knowhow. Mit G+D Filia® helfen wir Zentralbanken, Geschäftsbanken, Fintechs, Händlern und anderen Akteuren, die Hürden zur Einführung einer CBDC zu überwinden.

Es liegt nahe, Identität, Zahlungsverkehr, Gesundheit und Grundrechte an Verhalten zu koppeln – nicht weil boshafte Politiker die totale Kontrolle wollen, sondern einfach weil es machbar ist. In Wien kann man über ein Klimaschutzprojekt «Kultur Token» sammeln. In Bologna ist man einen Schritt weiter. Dort gibt es Bonuspunkt für eine Reihe von bestimmten Verhaltensweisen. Die Teilnahme ist freiwillig. Noch.

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Zunächst ist die App freiwillig, und sie funktioniert ganz wie ein Sozialkreditsystem aus dem Lehrbuch. Tugendhafte Bürger, die Müll trennen, die Öffis benutzen, keine Verwaltungsstrafen kassieren, werden «Punkte» sammeln. Welche Belohnungen man für die Punkte dann eintauschen kann, werde «derzeit definiert», sagte Massimo Bugano, der am Projekt arbeitet der Zeitung «Corriere di Bologna».

It’s real, it’s happening.

Was die Geldpolitik betrifft, wird es für Regierungen leicht werden, die Inflation zu verstecken, beziehungsweise den Bürgern keine Wahl zu lassen. Bedürftige bekommen digitale Euros auf ihre digitale ID/Wallet geschickt, um bestimmte Ausgaben zu tätigen. So können zum Beispiel Studienkredite von der Regierung getilgt werden, ohne eine Involvenzkaskade bei den Gläubigern auszulösen. Es versteht sich von selbst, dass bis dahin alle Assets, die sich nicht unter direkter Kontrolle der Regierung befinden, verboten oder möglichst schwer investierbar gemacht werden. I’m looking at you, gold, Bitcoin …

Und trotzdem wird vieles missverstanden. Das Gerede von der großen Verschwörung, mit der das WEF die Bürger unterjochen will, hilft nicht. Niemand kann eine neue Technologie aufhalten, sie setzt sich immer durch. Und so wird es auch bei einer digitalen Infrastruktur kommen, die uns in vielen Bereichen das Leben erleichtern wird. Der Verkehr in Shanghai ist de facto besser geworden. Unternehmen können über das System die Kreditwürdigkeit ihrer Vertragspartner besser einschätzen, was zum Wirtschaftswachstum beiträgt. Einen abgelaufenen Führerschein neu zu beantragen, wird leichter werden.

Das bedeutet auch: Die meisten Menschen werden die anstehenden Veränderungen begrüßen, eben weil sie den Alltag erleichtern. Freiheit ist eben anders als Zwang leider nicht expansiv. Ihr Verlust zeigt sich immer erst dann, wenn es zu spät ist.

Wir werden uns in den kommenden Jahren damit auseinander setzen müssen. Denn all das ist nicht weit weg; die EU zum Beispiel plant die Einführung des digitalen Euro 2026.

Nötig ist es, jetzt eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, wieviel Digitalisierung und digitalen Euro oder Dollar wir wollen. Nötig ist auch ein breiteres Verständnis von finanzieller Repression.

Wir können Technologien nicht aufhalten, aber wir können sie unter demokratische Kontrolle bringen und müssen uns nicht vor vollendete Tatsache stellen lassen.

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Mehr Texte von Philipp Mattheis zu den Themen Bitcoin, Geld und Freiheit gibt es auf seinem Blog BlingBling.