Sackgasse (Bild: shutterstock.com/MeSamong)
Die EU-Gaspolitik mündet in einer Sackgasse (Bild: shutterstock.com/MeSamong)

Die Politik der Sackgasse

Die Versuche des Westens, das mächtige Russland „einzudämmen“, sind alt — neu ist der selbstzerstörerische Furor, mit dem jetzt die Ukraine unterstützt wird.

Von Michael Ewert für Rubikon

Eine Disney-Produktion hat das Ammenmärchen von den sich in den Abgrund stürzenden Lemmingen in die Welt gesetzt. Die westliche Politik gegenüber Russland nährt den Verdacht, dass an diesem Unsinn doch etwas dran sein könnte, da schon die Zielsetzung rational nicht nachvollziehbar ist.

Wenn ein Land auf der Welt nicht „isoliert“ werden kann, weil es zu groß ist, quasi autark, reich an Bodenschätzen aller Art, sozial-gesellschaftlich in sich ruhend strukturiert — dann ist es Russland.

Ersatzweise wird auf die aus Sicherheitsinteressen zu beendende „Abhängigkeit“ von russischen Rohstoffen verwiesen. Wir seien „erpressbar“ geworden, weshalb die USA seit Jahren alle Hebel in Bewegung setzten, uns ihr unter Umwelt- und Menschenrechtsgesichtspunkten indiskutables Fracking-Gas aufs Auge zu drücken. Dazu musste die Gaspipeline Nord Stream 2 unterbunden werden (1).

Das Ende war greifbar, als der deutsche Bundeskanzler im Weißen Haus neben dem US-Präsidenten stand und sich diktieren ließ, unter welchen Umständen das Projekt gestorben sei. Keinerlei vergleichbare Pression hat sich jemals die Sowjetunion oder später Russland geleistet. Was also bedeutet in diesem Zusammenhang „Abhängigkeit“, aus der wir uns lösen sollten?

„Abhängigkeit“ ist ein Synonym für wirtschaftliche, politische oder kulturelle Beziehung. Sie beenden zu wollen, hieße, die Beziehung selber beenden zu wollen. Tatsächlich weisen nur unter diesem Gesichtspunkt die Sanktionen keinen logischen Fehler auf — zumindest nicht in sich. An sich sind sie grotesk. Sie schaden unter anderem Deutschland mehr als Russland und weisen keinen für beide Seiten konstruktiven Ausweg auf.

Für Charles Maurice de Talleyrand, Meister diplomatischen, nachhaltigen Vorgehens, war klar, dass nach einem Konflikt das Leben weitergeht. Die Ermordung preußischer Emissäre durch übereifrige Landsleute tadelte er mit den Worten: „Das war schlimmer als ein Verbrechen. Das war ein Fehler.“ Wenn diese Weitsicht nicht vorhanden ist, haben wir keine Fehler, sondern nur Verbrechen. Damit sind wir der Grundstruktur des westlichen Verhältnisses zu Russland auf der Spur.

Seit mehr als einem Jahrzehnt erleben wir das Phänomen, dass gegen Russland Sanktionen verhängt werden, deren vorgegebene Gründe keiner seriösen Überprüfung standhielten. Sie dienten offensichtlich lediglich Aufbau und Verbreitung einer russlandfeindlichen Ideologie bei den politisch Verantwortlichen, den medialen Claqueuren und, soweit möglich, in der öffentlichen Meinung.

Konfrontation mittels Sanktionen

Spätestens 2012 wurde die Kampagne eingeleitet durch die Inszenierung um den Tod von Sergei Magnitzky, als es William Browder, einem Hedgefondmanager, gelang, die Aufführung des Films von Andrei Nekrasow „The Magnitsky Act: Behind the Scenes” zu verhindern: Danach war Browder in die Manipulationen, deretwegen Magnitsky in Haft kam, wo er an Herzproblemen starb, selber verwickelt und setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um seine Rolle bei dem Steuerbetrug zu verschleiern. Eine wichtige Rolle hierbei spielten die deutschen Grünen, seit 1998 zuverlässige Garanten für Krieg, Armut und transatlantische Vasallentreue (2).

Der Abschuss des Passagierflugzeugs MH-17 über dem Donbass 2014 ist bis heute ungeklärt. Die unumstößlichen Beweise für eine Schuld Russlands, die der damalige US-Außenminister in der Hand zu haben behauptete, schafften es offenbar gerade noch in die Medien. Sie jubelten, die Trümmer rauchten noch: „Der Krieg ist zurück!“, weshalb es mit „gutem Willen und ganz viel Diplomatie“ nun nicht mehr getan sei, so die SZ am 19./20. Juli 2014.

Dabei hatte Russland nach dem Affront, die Krim samt Sewastopol der NATO zu entziehen, allen Grund, die Wogen zu glätten, die längst faschistisch unterwanderte Ukraine hingegen genügend Motive, im aufgewühlten Meer geifernder Propaganda letzte Barrieren für die Unterstützung durch den Westen untergehen zu lassen. Die nächsten Wellen ließen dann auch nicht auf sich warten.

2015 deutete die Kreml-Mauer als Tatort der Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzov klar auf den Hausherrn. Das Muster wurde verfestigt durch die Groteske einer russischen Beeinflussung der US-Wahlen 2016 mittels Youtube-Anzeigen für etwa 9 Rubel 80. Bei einem Treffen von Donald Trump mit Wladimir Putin holte sich, wenn man der New York Times glauben durfte, ein Agent von seinem Führungsoffizier neueste Anweisungen. Russiagate beherrschte die Themen in den Medien eines Landes, in dem man weiß, wie die Auswahl von Regierungen „beeinflusst“ wird und wie nicht.

2018 wurde die Welt von dem Anschlag auf die Skripals mit dem gefährlichsten Kampfstoff der Welt erschüttert, den sie ebenso wie Alexei Navalny 2020 überlebten. Die Skripals, die möglicherweise zurück nach Russland wollten, sind bis heute verschollen im Gewahrsam britischer Geheimdienste, Navalny landete nach einer Odyssee über die Berliner Charité, einem Kuraufenthalt im Schwarzwald samt einer Hollywood-Produktion zu einem sich dann in Luft aufgelösten Prunkschloss Putins bei Sotschi in einem russischen Gefängnis. Belege für all die Vorwürfe waren nicht nötig. Gesucht waren nur Anlässe für eine Kette von Sanktionen. Sie wurden aus dem Ärmel geschüttelt wie Karten eines Falschspielers.

Doch das Verhältnis zu Russland beziehungsweise der Sowjetunion war schon länger von Misstrauen, Distanz bis hin zur Feindseligkeit geprägt. Aber auch von einem Mangel wirklicher Möglichkeiten, den Status quo anzutasten. Das änderte sich, als nach ihrem Zerfall auf die Sowjetunion als Machtfaktor keine Rücksicht mehr genommen werden musste. 1991 hob Paul Wolfowitz gegenüber einem konsternierten Wesley Clark, Vier-Sterne-General, die Notwendigkeit hervor, das Zeitfenster, das sich bis zum Erstarken eines neuen Konkurrenten bot, zu nutzen und Pakistan, Afghanistan, den Irak, Syrien, den Libanon, Libyen und Somalia anzugreifen.

Das Motiv dahinter war „full spectrum dominance“, die globale Hegemonie. Das ist kein Hirngespinst durchgeknallter Neo-Cons, sondern Konsens in den dominanten Kreisen der Macht in den USA, abzulesen an der breiten Unterstützung aller Kriege in den Medien, auch in den ausländischen der restlichen G7-Staaten.

Der Zwang zur Kriegswirtschaft

Der Konsens rührt aus der Einsicht, dass die Stabilität der Eigentums- und Machtstrukturen in den USA ohne Kriegswirtschaft nicht zu gewährleisten ist. Der New Deal des Präsidenten Franklin Roosevelt war fortschrittlich genug, dass er in Unternehmerkreisen für Entsetzen sorgte. Aber entgegen einem hartnäckigen Mythos führte er nicht zu einem Ende der Arbeitslosigkeit. Vollbeschäftigung wurde erst mit Pearl Harbor erreicht. Wie die Japaner zu dieser US-Kolonie gelangten, wird in unseren Geschichtsbüchern sehr verkürzt dargestellt. Was die USA in Hawaii zu suchen hatten, überhaupt nicht.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde schnell klar, dass die Vereinigten Staaten ihre Form der Kriegswirtschaft, das heißt eine Wirtschaft zur Führung von Kriegen, würden beibehalten müssen. George Kennan stellte klar: „Wir haben 50 Prozent des Reichtums der Welt, aber nur 6.3 Prozent ihrer Bevölkerung. In dieser Lage ist es unsere eigentliche Aufgabe in der kommenden Zeit, ein Beziehungsgeflecht aufzubauen, das es uns erlaubt, diese Ungleichheit aufrechtzuerhalten. (…) Wir sollten aufhören, über Menschenrechte nachzudenken, über die Anhebung von Lebensstandards und über Demokratisierung.“

Das Gebot freien Zugangs für den Handel zog militärische Anstrengungen nach sich, wie es sie zu „Friedenszeiten“ noch nie gegeben hat.

Die Sowjetunion hatte damit an sich wenig zu tun. Die Vorstellung, dass Russland eingedämmt werden müsse, geht bis in die Wortwahl zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Die konfrontativen Pläne des Westens nach 1945 fanden vor dem Krieg ihre Entsprechung in der Kollaboration mit Nazi-Deutschland.

Seit 1922 verfolgte der Council on Foreign Relations das Projekt, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer einen cordon sanitaire zu schaffen (3). Es wurde 1943 wieder aufgegriffen, als sich die Nazis mit der Panzerschlacht von Kursk als Versager erwiesen hatten, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu errichten. Bis dahin gingen die Überlegungen maßgeblicher Kreise in den USA dahin, die Welt aufzuteilen zwischen einem von Nazi-Deutschland beherrschten Gebiet und einer von den USA sowie dem britischen Commonwealth dominierten Sphäre (4).

Die Angst vor dem „Kommunismus“ war nur insofern tangiert, als für Besitzende mit ausreichendem Klassenbewusstsein Beschränkungen ihrer Akkumulations- und Profitrate immer eine Rolle spielen. Nicht ein Expansionsdrang, zu dem die Sowjetunion nach Hitlers Vernichtungs- und Zerstörungsfeldzug gar nicht imstande gewesen wäre, provozierte das von den USA dominierte Netzwerk ökonomischer und militärischer Beziehungen. Ausgangspunkt waren vielmehr strategische Überlegungen, die aus den Zwängen einer Offenen-Tür-Politik resultierten (5). Damit war nicht nur der Kalte Krieg vorprogrammiert, sondern auch, wie sich nach dem Fall der Mauer 1989 deutlich zeigte, ein Konfrontationsszenarium, das absehbar Verwerfungen produzieren musste (6).

Der tendenzielle Fall von Hemmschwellen

Die heutigen Probleme begannen also nicht am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Auch nicht 2014 mit dem Maidan-Putsch faschistischer Kräfte und dem Artilleriebeschuss des Donbass, dessen russischsprachige Bevölkerung die Begeisterung des Westens über den russophoben Mob in Kiew nicht zu teilen vermochte und zumindest — wie auch Charkow — nach Autonomie strebte.

Das Unheil nahm auch nicht seinen Lauf erst mit dem 5 Milliarden-US-Dollar-Programm zur Alimentierung US-freundlicher Gruppierungen in der Ukraine. Es wurde sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Selbständigkeit ihrer Teilrepubliken gestartet als Investition, deren Rendite in einer Infiltrierung „reformunwilliger“ Gesellschaften durch ein „investitionsgünstiges“ Klima besteht. Die eigentlichen Probleme liegen noch tiefer, gut ablesbar an historischen Kontinuitäten, der longue durée, die der Mediävist und Sozialhistoriker Karl Bosl, langjähriger Professor für Bayrische Geschichte an der Münchener Ludwig-Maximilians Universität, im Anschluss an die französische Annales-Schule immer gerne anführte.

In unserem Fall handelt es sich um die immanent gegebene Notwendigkeit mächtiger Staaten mit hochentwickelten Strukturen kapitalistischer Wirtschaft und Finanzen, dem tendenziellen Fall der Profitrate zu begegnen und ärmere Länder, gar solche mit ausgebildeten, gut auszubildenden oder billigen Arbeitskräften und vor allem reichhaltigen Ressourcen, in Abhängigkeit zu bringen. Regime change steht permanent auf der Tagesordnung — vornehmlich bei Feinden von Aufklärung, Demokratie und Freiheit, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts im Angriffskrieg der USA gegen Mexiko zur Strecke gebracht werden sollten.

Der marxistische Kritiker der politischen Ökonomie Henryk Grossmann unterstrich, dass es, solange es eine kapitalistische Produktionsweise mit national unterschiedlichen Profitraten gibt, auch Imperialismus geben wird. Kriege sind nicht erforderlich — es sei denn, es geht nicht anders. Die Situation verschärfte sich mit der ab den 1970er-Jahren zunehmenden Bedeutung des Finanzsektors. Hier wird kein Geld geschaffen. Hier wird mit Geld spekuliert.

Das Verhältnis der in die Wirtschaft verwendeten Gelder zu den Summen, die als „Spielgeld“ verwendet werden, drehte sich schon Anfang der 1990er Jahre von 90 zu 10 um in 10 zu 90. Seitdem ging es in den Promillebereich, verbunden mit der entsprechend größer werdenden Panik, neue Felder der Ausbeutung, des Raubes und der Knechtung zu finden. Die Suche gilt den notwendigen Gegenwerten einer spekulativen Ökonomie, die ihrem Wesen nach nur Strohfeuer entfacht.

Mit Russland ließ sich nach 1990 zunächst alles gut an. Unter Boris Jelzin wurde es ausgeplündert und hatte praktisch abgerüstet bei einem Militäretat von 7766 US-Dollar im Jahre 1993. 2000 waren es 9228. Die NATO wendete etwa 80 mal so viel auf, genau 701.248. Was ging in den Köpfen ihrer Verantwortlichen vor? Was in den Köpfen des Kremls, als sich das westliche „Verteidigungsbündnis“ bis auf Staaten ehemaliger Gebiete der Sowjetunion ausdehnte? Was konnte damit bezweckt sein?

In einem Pentagon-Papier von 1992 hieß es, daß die „Integration Deutschlands und Japans in ein von (US-)Amerika geführtes System kollektiver Sicherheit“ zu gewährleisten sei (7). In die gleiche Richtung gingen 1997 und 2000 zwei Studien der Stiftung Project for a New (US-)American Century (PNAC), an denen neben Wolfowitz und Richard Cheney auch Donald Rumsfeld, sein Berater Richard Perle, Elliott Abrams sowie John Bolton beteiligt waren. Bolton legte 2000 in Bratislava den Europäern die US-Pläne für eine Isolierung Russlands dar (8).

Nach Zbigniew Brzezinski galt es im zentralasiatischen Raum, Russland, China oder auch Indien in Schach zu halten. Georgien kam hier eine Schlüsselrolle zu — neben Moldawien und vor allem der Ukraine, die seit 2014 de facto in NATO-Strukturen eingegliedert war. Moskau sieht sich nicht bedroht. Russland ist bedroht und hat die Reißleine gezogen.

Der Fanatismus, mit dem der Westen durch Waffenlieferungen und absolut totalitäre Propagandaschlachten sich in der Ukraine engagiert, zeigt das Maß an, in dem auch er sich bedroht fühlt — und bedroht ist. Nicht wegen des Anschlags auf „unsere Werte“, die in der Ukraine als einem von faschistischen Kräften durchseuchten Oligarchenparadies zur neoliberalen Ausplünderung nicht einmal vorhanden sind (9).

Er ist bedroht, weil seine zwanghaft gebotene Suche nach neuen Anlagefeldern bedroht ist. Osteuropa mit den Baltischen Frontstaaten und dann vor allem die Ukraine selber, zumal in Armlänge zum ehemaligen Stalingrad und dem Frontabschnitt der deutschen Wehrmacht 1941 vor Moskau waren als Sprungbrett angedacht für die Weiten des russischen Raumes. Dem hat Putin, der seit 2000 sein Land zu neuer Stärke und altem Selbstbewusstsein geführt hat, einen Riegel vorgeschoben. Der Hass auf ihn ist berechtigt. Die Hysterie des Westens hat aber noch einen Grund.

Der Schein des Irrationalen

Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass die Rechnungen der Sanktionspolitik nicht aufgehen können. Offenbar hielt man sich für den Fuchs und Russland für einen Hühnerhaufen. Doch in Moskau hat man sich mit Sicherheit seit Jahren beschäftigt mit einer Umorientierung weg von Europa, das immer ersichtlicher nicht an einer Kooperation interessiert war und zu einem riskanten Partner geworden ist, hin zum globalen Süden, vor allem auf dem asiatischen Kontinent. Dieser Prozess ist jetzt dank der westlichen Konfrontationshaltung, die im Konflikt um die Ukraine nur ihren bisherigen Höhe- und voraussichtlichen Endpunkt erreicht hat, im vollen Gange.

Während der Westen, insbesondere Europa, sich mit den Sanktionen selber am meisten geschädigt hat und absehbar weiter schädigen wird, steht er also zudem bezüglich seiner Verhandlungsoptionen mit leeren Händen dar.

Was hätte er anzubieten, das Moskau nicht als unglaubwürdig, durchsichtig taktierend und nicht tragfähig erachten würde? Der Kreml könnte in der dynamischen Entwicklung hin zu einem neuen Handels-, Finanz- und Zahlungssystem, selbst wenn er wollte, es sich gar nicht mehr leisten, westlichen Versuchen einer Annäherung besondere Beachtung zu schenken. Russland befindet sich in einer Situation, in der es diesbezügliche Vorschläge auf Jahre, wie man in Wien sagt, nicht einmal ignorieren wird.

Der Euro stürzt ab, der US-Dollar hat sehr wahrscheinlich lediglich eine Verschnaufpause auf Kosten der Europäer und der Rubel erlebt einen Höhenflug. Liegt hier das Rätsel um die Verzweiflungstat immer neuer Waffenlieferungen? Weshalb sich das Unternehmen Barbarossa 2.0 zum Zwecke einer Belebung unserer Blasen-, Raub- und Kriegsökonomie in einer Sackgasse befindet? Zusammen mit jener Strategie, die ihm zu Grunde liegt: die Eindämmung Russlands, die Etablierung eines Kerneuropas von Eurasien trennenden Keils und die verzweifelte, überlebenswichtige Suche des Finanzkapitals insbesondere der USA nach neuen Feldern der Plünderung?

Das Imperium hat seine Trümpfe ausgespielt. Es wird das Blatt nicht mehr wenden können. Nach seinen Punischen Kriegen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat es sich ab 1945 im Schatten glänzender Niederlagen das eigene Grab geschaufelt. China ist der Hauptfeind, weil es sich anschickt, zu einer wirtschaftlichen Gegen- und Übermacht zu entwickeln. An den Gründen, weshalb es zu einer Bedrohung geworden ist, lässt sich ablesen, wo jenseits ideologischer Phrasen die Befürchtungen des US-Finanz- und Wirtschaftssystems liegen: dass seine Möglichkeiten imperialer Plünderung an Grenzen stoßen in Gestalt ganz gegenständlich attraktiverer Alternativen. Mit Russland dachte man, leichteres Spiel zu haben.

Mit der Ukraine in der Tasche sah man riesige Gebiete mit fetten Feldern vor sich. Verlockend war die Aussicht, Europa sich auf ewig als militärisches Protektorat zu halten und China eines wichtigen Bündnispartners zu berauben. So weit, so gut. Der verhängnisvolle Grundfehler war wohl, das Potenzial Russlands und Willen wie Fähigkeit, das Überschreiten „roter Linien“ zu sanktionieren, unterschätzt zu haben. Zwei Protagonisten trafen sich: Einer befand sich auf einem absteigenden Ast, was er nicht merkte — er merkte auch nicht, dass er sich in einem neu gestalteten Koordinatensystem übernommen hatte.

Doch wenn einem aufgeweckten Hauptschüler aufgefallen wäre, dass die westliche Strategie schon wegen ihrer autodestruktiven Züge nicht aufgehen konnte – den verantwortlichen Politikern soll das nicht klar gewesen sein? Das ist kaum vorstellbar. So viele „Fehlentscheidungen“ gibt es auf der ganzen Welt nicht. Auch der Vorwurf missionarischen Fanatismus, der irregeleitet hätte, trifft nur Mechanismen, die tieferliegende Intentionen verdecken. Sie deuten in unserem Fall auf einen autoritären Umbau der gesellschaftlichen Strukturen zugunsten US-amerikanischer Monopolgesellschaften vor allem im Finanz-, Pharma- und Kommunikationswesen hin. Die Marionetten an den Strippen dieser Machtzentren machen keine „Fehler“. Sie erweisen sich selber als einziger Fehler.

Schon die despotischen Maßnahmen gegen ein „neuartiges Virus“, dessen Gefährlichkeit sich klar absehbar zwischen einer milden und einer schweren Grippe bewegte, ergaben nur einen Sinn als Versuch einer Neugestaltung der Herrschaftsausübung. Diese Tendenzen überschnitten sich seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien mit einer zunehmenden Militarisierung alles Gesellschaftlichen. Zur Zeit erleben wir auch in der Indoktrination gleichgeschaltet agierender Medien, wie sie der verstorbene Russland-Experte Stephen Cohen oder der Ex-CIA-Mitarbeiter Graham Fuller nie erlebt haben, die nächsten Schritte hin zu autoritativer Verhärtung.

Der US-Präsident kündigte am 16. Februar 2022 eine russische Invasion an. Am gleichen Tag nahm nach Angaben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, der Beschuss des Donbass dramatisch zu. Gut eine Woche später wurde, diesmal tatsächlich, „zurückgeschossen“ und eine Sprechpuppe jubelte, dass „Rußland ruiniert“ werde. Im Klartext forderte sie, Hindernisse für die tragenden Säulen westlicher Machtzentren zu beseitigen. „Corona“ war ein Probelauf. Nicht zufällig sind die energischsten Kriegstreiber identisch mit den Befürwortern von Schutzhaftbestimmungen und der Zwangsbehandlung mit genbasierten Therapien.

Gegenüber dem „Pandemie“-Regime ist das Vorgehen gegen Russland eine noch riskantere Strategie mit vielen Unbekannten, von denen eine ganze Reihe sich bereits als nicht zuträglich für das Wohlergehen unserer Gesellschaft erwiesen hat. Das war bei „Corona“ nicht anders, doch nunmehr sind die Rückschläge unberechenbarer und in jedem Fall wesentlich unmittelbarer.

Der Ex-CIA-Agent Robert Baer meinte angesichts desaströser Entscheidungen seiner Auftraggeber im Nahen Osten einmal lapidar: „Jedes Imperium geht einmal unter!“ (10) Es geht unter und Neues entsteht. Das können wir derzeit beobachten. Leider zahlen zurzeit vor allem die armen Ukrainer den Preis dafür. Mögen sie in Gedenken an unvergessene Charaktere wie ihren Landsmann Nestor Machno gleich Phoenix aus der Asche steigen und wir uns an ihre Fersen heften. Es gibt viel zu tun.


Quellen und Anmerkungen:

(1) siehe Uli Cremer, Außenenergiepolitik: Die gleiche Geopolitik in GRÜN? Grüne Friedensinitiative 30. März 2016 gruene-friedensinitiative.de/cms/aussenenergiepolitik-die-gleiche-geopolitik-in-gruen/; Malte Daniljuk, Nach dem Juncker-Deal mit Donald Trump: Schleusen auf für Fracking-Gas, telepolis 13. Sept. 2018 heise.de/tp/features/Nach-dem-Juncker-Deal-mit-Donald-Trump-Schleusen-auf-fuer-Fracking-Gas-4163997; ders., Weltpolitik in Norddeutschland, telepolis 29. Oktober 2018 heise.de/tp/ features/Weltpolitik-in-Norddeutschland-4205562; Thomas Pany, Nord Stream 2: US-Botschafter Grenell warnt deutsche Unternehmen, telepolis 13. Januar 2019 heise.de/tp/ features/Nord-Stream-2-US-Botschafter-Grenell-warnt-deutsche-Unternehmen-4272789
(2) siehe Robert Parry, A Blacklisted Film and the New Cold War, Consortiumnews 2. August 2017 consortiumnews.com/2017/08/02/a-blacklisted-film-and-the-new-cold-war/; ders., Guardians of the Magnitsky Myth [28. Okt. 2017], Consortiumsnews 21. Juli 2018 consortiumnews.com/2018/07/21/ guardians-of-the-magnitsky-myth-2/; Thomas Pany, Hinter den Kulissen des politisch instrumentalisierten Falls Magnitsky, telepolis 12. Juni 2018 heise.de/tp/features/Hinter-den-Kulissen-des-politisch-instrumentalisierten-Falls-Magnitsky-4063854; Andrei Nekrasov/ Vetta Kirillova, Bill Browder und seine Geschichte vom Tod des angeblichen Whistleblowers Magnitski, telepolis 15. Juli 2018 heise.de/tp/features/Bill-Browder-und-seine-Geschichte-vom-Tod-des-angeblichen-Whistleblowers-Magnitski-4108672; Andrea Drescher, Von journalistischen Coups, unterschiedlichen Blickwinkeln und der Abscheu vor Lügen [ein interessantes, die Verlogenheit des Westens gegenüber Russland berührendes Gespräch mit Nekrasov], NachDenkSeiten 13. Januar 2019 nachdenkseiten.de/?p=48384; oder Nekrasov, Alle Fälscher sind gleich, aber einige sind gleicher, NachDenkSeiten 29. April 2019 nachdenkseiten.de/?p=51321
(3) siehe Laurence Shoup/ William Minter, Kulissenschieber e.V. Der Council on Foreign Relations und die Außenpolitik der USA, Bremen/ Berlin 1981, 37f
(4) siehe Shoup/ Minter, Kulissenschieber e.V., 94ff
(5) siehe William Appleman Williams, Die Tragödie der [US-] amerikanischen Diplomatie, Frankfurt a.M. 1973; David Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Berlin 1983; Gabriel Kolko, The Roots of [US-]American Foreign Policy. An Analysis of Power and Purpose, Boston 1969; ders./ Joyce Kolko, The Limits of Power. The World and United States Foreign Policy 1945-1954, New York 1972; Christopher Layne/ Benjamin Schwarz, Die Feldherren des Freihandels, DIE ZEIT 29. Oktober 1993 (Auszug eines Aufsatzes in Foreign Policy)
(6) siehe hierzu Albrecht Müller, Vortrag Arbeitskreis Frieden Offenbach 16. Juli 2014: Wie ist es nur möglich, dass 25 Jahre nach dem Fall der Mauer der Kalte Krieg zurückkehrt https://www.nachdenkseiten.de/wp-content/uploads/2022/07/220724-AM-Rede-Offenbach-Juli-2014.pdf
(7) zitiert nach: Ein neuer Rivale? Eine Studie [US-] amerikanischer Militärstrategen fordert den Protest von Kanzler Kohl und Vize Genscher heraus: Die USA reklamieren weltweiten Führungsanspruch und sehen in Deutschland oder Japan potenzielle Gegner. Die Bonner aber setzen auf ein europäisches Sicherheitssystem, das sich möglichst der US-Kontrolle entzieht, DER SPIEGEL 16. März 1992 spiegel.de/spiegel/print/d-13681878
(8) siehe den Brief von Willy Wimmer an Gerhard Schröder, NachDenkSeiten 18. August 2014 nachdenkseiten.de/?p=22855 ; ders., Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016; 2015 erläuterte der Gründer und Vorsitzende des militärischen Kreisen nahestehenden Stratfor-Instituts George Friedman, dass die US-Politik seit jeher eine Kooperation zwischen Deutschland und Russland zu verhindern trachtete: nachdenkseiten.de/?p= 25405#more-25405 ; Pepe Escobar, The new European ‘arc of instability’, rt.com/op-edge/213303-putin-russia-sovereign-swift/; nachdenkseiten.de/?p=25398# more-25398; Wolfgang Bittner, Die Eroberung Europas durch die U.S.A. Zur Krise in der Ukraine, Frankfurt a.M. 2015
(9) siehe Werner Rügemer, „Unsere europäischen Werte“: 1,21 Euro Mindestlohn in der Ukraine, NachDenkSeiten 21. Juli 2022 https://www.nachdenkseiten.de/?p=86079#more-86079
(10) zitiert nach Petra Steinberger, Agenten, Lügen und Videotapes, SZ 11. Februar 2002

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