Ein Linker mit einer typischen Handbewegung (Foto: Von Ralf Geithe/Shutterstock)

Russenhass: Eine späte Revanche der Nachgeborenen?

Ich frage mich seit Monaten, woher dieser neue Russenhass stammt. Die kommunistische Gefahr der alten Sowjetunion ist längst Geschichte, das heutige Russland ist kapitalistischer als Deutschland. Man vermochte es bis vor kurzem jederzeit bereisen, die Attraktionen seiner großen Städte St. Petersburg und Moskau bewundern, sogar mit dem Zug durch ganz Sibirien bis zum Pazifik reisen.
Von Wolfgang Hübner
Dabei konnte man oft auf Menschen treffen, die trotz des schrecklichen Geschehens im Zeiten Weltkrieg Deutschland bewunderten, jedenfalls keinerlei Ressentiment oder gar Hass zeigten. Wer wollte, es waren gar nicht so wenige, hat sich davon überzeugen können. Mir ist niemand bekannt, der nach einer Russland-Reise nicht beeindruckt war von den positiven Veränderungen des Riesenlandes in den Putin-Jahren.
Auch deshalb habe ich nie geglaubt, nur der militärische Einfall in die Ukraine habe plötzlich alles geändert im deutschen Russlandbild. Denn die Zustände, ja selbst die Existenz der Ukraine hat die allermeisten Deutschen wenig bis überhaupt nicht interessiert. Daran konnte auch die Krim-Krise 2015 nicht viel ändern. Doch seit Ende Februar wird uns nun eingehämmert, es gäbe nichts Wichtigeres in Europa und auf der Welt, als diese korrupte, sozial und ethnisch krass gespaltene Ukraine für die EU und die NATO vor Russlands Armeen zu retten. Und um diese Position zu rechtfertigen, wurde und wird nicht nur ein völlig irrationaler Hass auf Präsident Putin, sondern auch auf Russland und seine Existenz als große Macht im Osten angefacht, der mit allen Mitteln der Propaganda bislang aufrechterhalten wird.
Doch Propaganda ist nur dann erfolgreich, wenn sie an tiefersitzende Vorbehalte und Emotionen anknüpfen kann. Bei den grün-bunten, linksliberalen Kräften in Deutschland gibt eine ideologisch motivierte Ablehnung des gesellschaftspolitisch konservativen russischen Systems mit dem „Macho“ Putin an der Spitze. Wo Frauen noch Frauen, Männer noch Männer, Schwule und Lesben noch eher stille Randgruppen sind, das Leitbild Familie noch nicht ausrangiert wurde – da ist nicht die Welt derjenigen, die jetzt in Deutschland das Volk in die Energieknappheit jagen. Aber was ist mit den vielen, meist älteren und alten Deutschen, die in Umfragen dafür sorgen, dass immer noch eine Mehrheit für die massiv selbstschädigenden Sanktionen sein soll?
Ich vermute bei diesen Landsleuten Spätfolgen eines von den Vätern und Großvätern sozusagen „ererbten“ Niederlagen-Traumas. Denn es war der gescheiterte, mit Millionen Soldatenopfern bezahlte Russland-Feldzug, der alle deutschen Träume vom Imperium und Herrenmenschentum zerstörte. Nur sehr wenige Väter, die daran teilgenommen hatten, erzählten ihren Nachkriegskindern von den Schrecken und der Schuld des “Unternehmens Barbarossa“, an dem die meisten übrigens keineswegs freiwillig oder gar begeistert teilnehmen mussten. In Millionen deutschen Familien wurde darüber geschwiegen. In meinem Fall war das nicht so, dafür bin ich meinem Vater unendlich dankbar. Denn mit Schweigen wird nichts gelöst, sondern nur verschleppt.
Die allermeisten aktiven Teilnehmer am Russland-Feldzug sind inzwischen tot oder uralt. Ihre Söhne und Enkel leben mit der stillen Last des Schweigens der Väter. Sie leben auch mit der penetranten Dauererinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Kann es nicht sein, dass es deshalb Erleichterung verschafft, in Putin eine Art Hitler zu sehen und in Russland nun den Staat des Bösen, der einen Angriffskrieg wie damals das Großdeutsche Reich führt? Wenn das stimmt, wird der neuer Russenhass verständlicher, aber keinen Deut weniger gefährlich und auch keinen Deut besser.

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