Zerstörte Pipeline - Symbolfoto: KateStudio/Shutterstock

Nordstream-Sprengung: Die Sache ist ein wenig komplizierter

Es ist ein Thema, bei dem man als Deutscher nicht locker lassen sollte. Wenn Nordstream, wie von Seymour Hersh recht nachvollziehbar dargelegt hat, auf Geheiß Joe Bidens und unter Mithilfe der norwegischen Marine gesprengt worden ist, dann muß das weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Der ohnehin schon sehr detaillierte Bericht von Seymour Hersh verdichtet sich weiter. Pepe Escobar hat sich dazu geäußert.

von Max Erdinger

Pepe Escobar ist gebürtiger Brasilianer, investigativer Journalist, Auslandskorrespondent und analysiert geopolitische Zusammenhänge. Der Mann paßt in keine Schublade. Zwischen 2010 und 2014 verfasste er die Kolumne „The Roving Eye“ für die “Asia Times Online”. In Brasilien schrieb er für die Zeitungen “Folha de S. Paulo”, “O Estado de S. Paulo” und die “Gazeta Mercantil”. Escobar ist Kosmopolit und lebte in London, Paris, Mailand, Los Angeles, Washington D.C., Bangkok und Hongkong. Seine Artikel erschienen kultur- und ideologieübergreifend bei “Russia Today”, “CBS News”, “The Real News”, “Sputnik”, “TomDispatch”, “Mother Jones”, “The Nation”, dem staatlichen iranischen “Press TV” und dem arabischen Nachrichtensender “Al Jazeera” aus Katar.

Die Sprengung von Nordstream 1&2

Im Prinzip stimmt die Geschichte von Seymour Hersh, sagt Escobar. Es fehlen lediglich ein paar Kleinigkeiten, moniert er, die zu einer falschen Motivlage für die Sprengung führen. Zunächst sei merkwürdig, daß es in Hershs Bericht keine Bezugnahme auf den britischen MI6 gibt, keine Hinweise auf die polnische Regierung bzw. auf die polnische Marine, keine Erwähnung der Dänen und keine der Schweden – und auch keine der deutschen Bundesregierung. Auch sei in der Tat die Anonymität von Hershs Quelle bedauerlich, wenn auch mehr als verständlich, aber zumindest ließe sich deren Herkunft eingrenzen. Es muß jemand sein, so Escobar, der engen Kontakt zu mindestens einem der Mitglieder von Joe Bidens “Presidential Intelligence Advisory Board” (PIAB) hat. Die Mitglieder des PIAB wurden allesamt vom mutmaßlichen US-Präsidenten selbst bestimmt. Es handelt sich um Sandy Winnefeld, Gilman Louie, Janet Napolitano, Richard Verma, Evan Bayh, Anne Finucane, Mark Angelson, Margaret Hamburg, Kim Cobb und Kneeland Youngblood.

Positionierung des Bundeskanzlers

Nach einigen interpretationsfähigen Einlassungen hatte Olaf Scholz im Januar 2022 erklärt, er stünde im täglich immer wahrscheinlicher werdenden Ukrainekonflikt fest an Amerikas Seite. Das ist bemerkenswert, wenn man weiß, daß im Monat zuvor ein Schreiben aus Moskau nach Washington gegangen war, in dem ernsthafte Diskussionen zur Unteilbarkeit der gemeinsamen Sicherheit in Europa gefordert worden waren. Dieses Schreiben blieb unbeantwortet. Es wurde einfach ignoriert in Washington. Zur gleichen Zeit fanden aber massive Truppenaufmärsche nicht nur auf russischer Seite statt, sondern ebenfalls welche von NATO-geführten Truppen der Ukrainer an den Grenzen zum Donbass, was auf die Absicht eines NATO-geführten Blitzkriegs gegen den russischen Osten der Ukraine schließen ließ. Das kommt in Hershs Report nicht vor, weshalb sich Hersh fragen lassen muß, so Escobar, weshalb er mit seinem Report das Narrativ mitbedient, es gehe im Ukrainekrieg um den Schutz Europas vor einer russischen Expansion nach Westen. Kann es sein, daß Scholz keine Ahnung davon hatte im Janur 2022, als er sich eindeutig positionierte?

Auf amerikanischer Seite stand er dann am 7. Februar 2022, als Biden im Beisein von Scholz verkündete, Nordstream 2 würde auf jeden Fall beerdigt werden, falls die Russen in die Ukraine einmarschieren – und Scholz stand weiter auf der amerikanischen Seite, als im September die Pipeline explodierte. Heute erweckt er mehr den Eindruck, als wollte er seinerseits lediglich noch den Eindruck vermeiden, er stünde nicht mehr auf Seiten der USA. Hershs Bericht zufolge war die Veknüpfung des Endes von Nordstream 2 mit dem Einmarsch der Russen in der Ukraine aber eine Zwecklüge, um das wahre Motiv für den Entschluß zur Sprengung zu verbergen. Der Entschluß, Nordstream 2 zu zerstören, sei nämlich bereits spätestens im Dezember 2021 gefallen. Ab da bis zur tatsächlichen Sprengung sei es nur noch darum gegangen, wie die Täterschaft am besten verschleiert werden könnte. Dies wiederum sei das Thema der Treffen des PIAB gewesen, um das sich alles drehte. Die geplante Sprengung selbst habe bereits festgestanden. Bidens nur scheinbar unbedachte Einlassung zu Nordstream 2 – sowie die von Victoria Nuland zuvor – seien in Wahrheit dem folgenden Kalkül gefolgt: Wenn öffentlch gesagt worden ist, daß beim russischen Einmarsch in die UKraine Nordstream 2 am Ende ist, dann ist das Ende von Nordstream 2 per Sprengung kein geheimdienstlicher Akt mehr gewesen, zu dem ein “Special Comand” nötig gewesen wäre, für dessen Einsatz vorher die Genehmigung des US-Kongresses einzuholen gewesen wäre. Durch die vermeintlich leichtsinnige Indiskretion Bidens am 7. Februar und die dadurch erfolgte Offenlegung der Absichten seien sowohl CIA als auch “Special Command” und die Unterrichtung des US-Kongresses flachgefallen. Biden konnte ohne den Kongress die Sprengung anordnen und brauchte auch kein “Special Command” mehr dazu, sondern konnte auf die reguläre US-Navy zurückgreifen.

Nirgendwo bestreitet Hersh in seinem Report das unterstellte “Recht” der USA, sich Europa als geopolitsche Sklavensphäre zu sichern. Er kapriziert sich lediglich auf den Betrug an den “Bündnispartnern”, hier also Deutschland und indirekt den anderen Europäern, an die billiges Gas aus Russland von Deutschland aus weiterverkauft wurde.

Daß die Sprengung von Nordstream 2 irgendetwas mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben könnte, entpuppt sich als eine ziemlich unlogische Annahme. Vielmehr sieht es danach aus, als sei der Krieg eine willkommene Rechtfertigung für einen Plan, der schon vor dem Krieg gefasst worden war. Man erinnere sich an die vorgeschobenen Begründungen für die Nichterteilung einer Betriebsgenehmigung für Nordstream 2 mehrere Monate vor dem Krieg, als es seitens der späteren Außenministerin Baerbock hieß, Nordstream 2 sei nach EU-Recht nicht genehmigungsfähig, weil die Eigentümer der Pipeline und die Gaslieferanten keine zwei voneinander getrennten Entitäten seien. Das ist merkwürdig, weil man annehmen darf, daß ein solcher Sachverhalt dann, wenn er ausschlaggebend für eine Betriebsgenehmigung gewesen wäre, lange vorher sowohl in Deutschland als auch in Russland hätte bekannt sein müssen. Wer versenkt Abermilliarden in den Bau einer Pipeline, wenn er die ganze Zeit damit rechnen müsste, am Ende keine Betriebsgenehmigung zu erhalten? Die spätere Scheinbegründung, durch den Ausfall von Nordstream 2 würde verhindert, daß Russland seine Kriegskasse füllt, war zum Zeitpunkt des Schnacks von der Betriebsgenehmigung noch längst nicht Realität. Noch nicht einmal das später von den USA ignorierte Schreiben aus Moskau vom Dezember 2021 war zu diesem Zeitpunkt bereits verfasst worden.

Das ganze Narrativ

Mitte Februar 2023 fängt das ganze westliche Narrativ vom “unprovozierten Angriffskrieg” der Russen an, zu zerbröseln, genauso, wie das Narrativ vom Kriegsbezug der Nordstream-Sprengungen. Vielmehr schält sich heraus, daß in den USA mit der Ukraine ein drittes Scheitern bei dem Versuch, einen Fuß in die russische Tür zu bekommen – nach Georgien und Kasachstan – zwar nicht gewollt, aber durchaus in Kauf genommen worden sein könnte, weil sich ein bislang verschwiegenes Ziel auf jeden Fall realisieren würde: Die Ausschaltung Deutschlands und der EU als wirtschaftlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt via “Bündnispflichten”. Inzwischen ist noch nicht einmal mehr auszuschließen, daß das eigentlich das Hauptziel des ganzen Ukraine-Engagements der USA gewesen ist: Die Bündnistreue der europäischen NATO-Mitglieder dafür auszunützen, sie erstens als Wirtschaftsmacht zu beerdigen – und zweitens, ihr Wiedererstarken durch die Kappung sowohl der Ressourcen aus Russland als auch der freundschaftlichen Beziehungen nach Russland zu verhindern – und dafür in einem politischen und wahrhaftig menschenverachtenden Roulettespiel das Leben von hunderttausenden von Ukrainern und Russen “zu setzen”. Dafür spricht, daß sich in den USA von allem Anfang niemand Illusionen machen konnte darüber, wie das Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland bei Mann und Material in einem Bodenkrieg aussieht. Und wenn solche Illusionen dennoch bestanden haben sollten, dann wäre das ein guter Grund für die Amerikaner, wegen erwiesener Idiotie gleich die “Hände hoch” zu nehmen.

Das ganze UFO- und Ballongedöns der vergangenen Tage läßt darauf schließen, daß in den USA nichts derartig unerwünscht ist, wie eine Debatte um die Sprengung von Nordstream 1&2 sowie die Implikationen daraus. Es ändert aber nichts: Die Zukunft Europas liegt nicht im Vasallentum einer Macht, die ihrem “Exzeptionalismus” frönt – dieser amerikanischen Version einer “Herrenmenschenideologie” sozusagen – , sondern sie liegt in Eurasien. Weshalb den Europäern gar nichts anderes übrig bleibt, als die “trojanischen Pferde” des Transatlantizismus in ihren Reihen zu identifizieren und unschädlich zu machen, um sich von den USA zu emanzipieren. Dort hat man nämlich endgültig die Masken fallen lassen. Die USA sind nicht “Verbündete & Partner” der Europäer, sondern ihre erbittertsten Feinde. Die USA von heute haben mit den “westlichen Werten” nichts mehr zu tun, weil Verrat und Lüge noch nie westliche Werte gewesen sind. Schluß mit “Cheese” für die Kameras!

So lange Deutschland noch der “Zahlmeister” der EU ist, sollte deshalb viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, um auch die anderen Europäer für einen fundamentalen Richtungswechsel zu gewinnen. Die Amis haben es ein für allemal vergeigt.

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