Gedanken über die sogenannte cancel-culture – nun auch in der Literatur
Von Dietrich Quintilian
Die Älteren von uns kennen das vielleicht noch: Da sitzt man an einem sonnigen Tag im Unterricht und versucht einen Blick auf die blühenden Geranien der ausladenden Balkone, oder wenigstens die knackigen Rundungen des Hinterteils seiner Mitschülerinnen zu erheischen – manchmal kommt dabei auch ein Taschenspiegel an einer Stange zum Einsatz, nämlich wenn sie Röcke tragen – und vorne steht so eine langweilige Kalkstange in einem gesichtslosen grauen Sakko – NATÜRLICH GRAU! – und salbadert irgendetwas von einer “Effi Briest“ oder einem “Gretchen“. Wie langweilig! Aber Mist: Das wird in der nächsten Klausur ja abgefragt und interpretiert! Also: Spiegel einziehen und sich auf die Langeweile konzentrieren.
So oder ähnlich vergleichbar können wir uns – zumindest im Frühling und Sommer – die ehemalige Annäherung an die gehobene deutsche Literatur in höheren Lehranstalten dieses Landes bei vielen Jungs vorstellen, während die meisten Mädchen brav ihren Kindler auswendig lernten und mühelos das, was Literaturkritiker dort irgendwann niedergeschrieben hatten, widerkäuen konnten – was übrigens zu recht guten Zensuren in diesen Fächern für sie führte. Erst später, oftmals um einige Lebenserfahrungen reicher, begannen die Herren der Schöpfung, sich der Literatur zu nähern und entdeckten einen Herrn Fontane, oder Goethe und Schiller. Auf einmal boten deren Werke für sie tiefe Lebensweisheiten und Erkenntnisse, Parallelen zu selbst Erlebtem und halfen so, noch sattelfester im Leben zu werden.
Schon immer gab es Werke der Weltliteratur, die einzelne Menschen ansprachen und andere halt nicht. Einige “Klassiker“ haben sich zum Beispiel für mich bis heute nicht erschlossen – ich finde sie immer noch genauso langweilig wie damals in den wonnigen Sommertagen. Andere wiederum haben mich mittlerweile geradezu elektrisiert – binnen weniger Stunden und Tage wurden sie verschlungen und seither immer wieder einmal zur Hand genommen und in ihnen geschmökert.
Jeder einzelne Mensch hatte die Gelegenheit, seine eigenen Präferenzen und Vorlieben in der Literatur zu entdecken und zu finden: Krimis? Kein Problem: In den Regalen links! Sozialthriller? Bitteschön: Rechts in den Regalen! Politische Literatur und Argumentation? Gerne! Finden Sie da hinten! Lyrik? – Oh gerne: Schauen Sie doch in dem Regal am Schaufenster!
Doch seit einiger Zeit gibt es nun eine Bewegung, deren totalitärer und faschistoider Kern den Menschen die Möglichkeit nehmen will, diesen eigenen Zugang – oder auch bleibende Ablehnung – zu Werken der Literatur zu finden: Menschen, die selbst literarisch zu ungelenk sind, um etwas wirklich Substanzielles zu Papier zu bringen, verstecken ihre eigene geradezu ekelhafte Belanglosigkeit und ihre totalitären Verhaltensmuster hinter moralintriefenden Hirnfürzen und Zensurexzessen mit denen sie die Werke bereits verstorbener Autoren schänden und verunstalten.
Erstmalig fiel es mir auf, als in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ posthum aus ihrem Vater aus einem „Negerkönig“ ein „Südseekönig“ gemacht wurde und seither beginnt der Literaturfaschismus in Galopp zu verfallen: Ian Flemings Werke wurden der „heutigen Realität angepasst“ – wie man Zensur und Autorenschändung süßlich verschleiert. Noch zu Lebzeiten und recht betagt, wurde Otfried Preußler von Medien und seinem Verleger derartig unter Druck gesetzt, dass er letzten Endes einer „freiwilligen Änderung“ (die ALLES war, aber eben NICHT freiwillig, denn sonst hätte Preußler sie ja selbst aus „freien Stücken“ vorgenommen und eben nicht lediglich einen Änderungsvorschlag fremder Personen angenommen) zustimmte. Bei „Charly und die Schokoladenfabrik“ von Roald Dahl trifft der Protagonist der Geschichte auf eine Figur namens „August Glupsch“, die im Original wie folgt beschrieben wird: „… einen neunjährigen Jungen, der so unglaublich dick war, dass er aussah, als ob er mit einer großen Pumpe aufgeblasen wurde“ – in der neuesten Fassung ist August Glupsch weder fett noch dick, sondern einfach nur noch „riesig“. Dem Bodyshaming sei Dank!
Diese Art der Zensur und Manipulation zieht sich inzwischen durch die gesamte Literatur- und Kunstwelt. Der Versuch, alles und jeden politisch korrekt anzupassen, hat zu einer verstörenden Welle der Selbstzensur geführt. Autoren und Künstler leben in ständiger Angst, dass ihre Werke den aktuellen moralischen Standards nicht entsprechen könnten. Werke werden nachträglich „gereinigt“, um bloß keine empfindlichen Seelen zu verletzen. Doch diese Pseudomoral führt nicht zur Bildung einer toleranteren Gesellschaft, sondern zu einer Verarmung des kulturellen Erbes. Die klassische Literatur, die einst dazu diente, die Gesellschaft zu reflektieren und zu kritisieren, wird in eine homogene, zahnlose Masse verwandelt, in der Kontroversen vermieden und Ecken und Kanten abgeschliffen werden.
Das Absurde daran ist, dass viele dieser Änderungen oft ohne Einwilligung der ursprünglichen Autoren oder deren Erben vorgenommen werden. Sie werden von Verlagen und Redakteuren durchgesetzt, die sich vor dem öffentlichen Aufschrei der modernen Empörungsindustrie fürchten. Diese Anpassungen sind keine Akte der Rücksichtnahme, sondern der Feigheit und Opportunismus. Sie sind ein Schlag ins Gesicht der kreativen Freiheit und der integren Darstellung historischer und kultureller Realitäten.
Ein weiteres erschreckendes Beispiel ist die Bearbeitung von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Wörter, die heute als rassistisch gelten, wurden ersetzt, ohne die historische und gesellschaftliche Kontextualisierung zu berücksichtigen. Twains Werk ist ein kritischer Kommentar zur amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit, und die Änderungen verfälschen seine Botschaft und den kritischen Diskurs, den er entfachen wollte. Ebenso verhält es sich mit Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, dessen Titel und Inhalt oft als anstößig empfunden und daher überarbeitet werden, obwohl gerade die provokative Sprache und Darstellung den imperialistischen Wahnsinn und die menschliche Dunkelheit ans Licht bringen sollen.
Diese literarische Bereinigung ist symptomatisch für eine breitere kulturelle Tendenz, unbequeme Wahrheiten und historische Tatsachen zu verschleiern. Anstatt sich den unangenehmen Teilen unserer Geschichte und Kultur zu stellen und daraus zu lernen, wählen wir den einfacheren Weg der Verleugnung und Tilgung. Diese Praxis erstickt den kritischen Diskurs und das Verständnis für die Komplexität menschlicher Erfahrungen.
Es entsteht eine Kultur, die sich vor der Vergangenheit fürchtet und unfähig ist, sich mit den weniger glorreichen Aspekten ihrer selbst auseinanderzusetzen. Ein fiktiver, idealisierter Zustand wird angestrebt, der die Realität verdrängt und die Möglichkeit echter Veränderung und Erkenntnis mindert. Die dauerhafte Bereinigung führt dazu, dass die Gesellschaft aus den Fehlern der Vergangenheit nicht lernt und somit verurteilt ist, sie zu wiederholen.
So wird letztlich nicht nur die künstlerische und literarische Vielfalt untergraben, sondern auch die Fähigkeit der Gesellschaft, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die daraus resultierende intellektuelle Verarmung gefährdet den freien Austausch von Ideen und die Entwicklung einer aufgeklärten und mündigen Bürgerschaft. Die Zensur in der Literatur ist daher nicht nur ein Angriff auf die Kunstfreiheit, sondern auch auf die grundlegenden Prinzipien einer offenen und demokratischen Gesellschaft.
Seit vorgestern wissen wir, dass die Sprach-Tscheka nun gegen Agatha Christie vorgehen will. Die ideenlosen Parasiten, bei denen es halt nicht zu einer eigenen schriftstellerischen Karriere gereicht hat, verstecken sich hinter “großen Namen“ und bereits etablierten und zumeist verstorbenen oder zumindest hochbetagten Autoren, um ihre eigenen Belanglosigkeiten und uninteressanten bis schwachsinnigen Ansichten betrügerisch unter einer praktisch unangreifbaren “false flag“ ins Rennen zu schicken. Elende Feiglinge, die sich – wohl zu Recht! – nicht einmal trauen, ihre Hirnfürze unter eigenem Namen zu veröffentlichen, sondern dafür die Werke echter Autoren missbrauchen. Es sind die spießigen und ausdruckslosen Zeitgenossen dieser Art, die diesen Weg aus purer Scham über das eigene Unvermögen, grotesker Inhaltsleere und struktureller Infamie gehen müssen, weil sie außerstande sind, etwas Eigenes zu schaffen!
Die Spielwiese für sie ist jedoch riesig: Bei Shakespears “Heinrich V.“ können sie damit beginnen, die “toxische Männlichkeit“ in der Schlacht von Azincourt durch einen fröhlichen Transenfick am kalten Büffet umzulügen. Othello? War das nicht eine cis-quartäre Transperson mit Sinti-Hintergrund? Einfacher wird das Umlügen bei Romeo und Julian, dem schwulen Traumpaar aus den toxischen Clanpatriarchatsfamilien.
Martin Luthers Antisemitismus kann man einfach streichen, ragt er ja über die Antisemitismen seiner Zeitgenossen nicht sonderlich heraus: Also: Weg damit! Abälard und Heloise schrieben keine Briefe, denn das ist ja gar nicht zeitgemäß und übrigens völlig geschichtsvergessen: Nein! Sie chatteten kurzerhand auf WhatsApp! Wer könnte anderes denken? Und Shakespeare hat natürlich keine Sonette geschrieben, sondern postete seine Liebesgedichte auf Instagram, weil das doch viel moderner und zugänglicher ist. Auch Homers „Odyssee“ wäre natürlich besser als eine spannende Netflix-Serie, denn wer liest heute noch epische Gedichte? Und Goethe? Der „Faust“ wäre viel cooler als interaktives Virtual-Reality-Spiel. So wird die Vergangenheit an unsere Gegenwart angepasst, damit sie uns besser gefällt und bloß niemand sich mit dem Original auseinandersetzen muss.
Irgendwann jedoch wird einer dieser geistlos Bescheuerten über die Stränge schlagen und versuchen, ein Buch namens “Mein Kampf“ in eine einzige Hippie-Wohlfühl-Oase umzulügen. Spätestens dann wird er auf gnadenlosen Widerstand treffen, der eigentlich schon viel früher hätte einsetzen müssen.
Für klar denkende Menschen gibt es dadurch noch Hoffnung, dass letztendlich ein literarisches Werk – ob man den Inhalt oder Stil mag oder nicht – nur vom Autor selbst und freiwillig geändert werden kann und sollte, wenn wir individuelle Positionen und Meinungen beibehalten wollen – und für grenzdebile Faschistoidiot:innen gibt es viel zu tun: Packen wir`s an!