Junge Wähler wählen AfD (Bild: shutterstock.com/ Von Bihlmayer Fotografie)
Junge Wähler wählen AfD (Bild: shutterstock.com/ Von Bihlmayer Fotografie)

Fünf Reißzwecken in der Lagekarte nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen

Ist zu den starken Ergebnissen der AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen alles gesagt? Es scheint so, obwohl noch kein Tag vergangen ist. Und das ist das Interessante:

Von Götz Kubitschek

Weil es über Jahrzehnte so leicht fiel, das abzutun, was nicht ins eigene Weltbild paßt, haben Politik und Medien Anstrengungsbereitschaft und Vorstellungsvermögen eingebüßt und für das, was nun geschieht, weder Begriffe noch Erklärungen.

Haben wir sie? Über das Offensichtliche müssen wir nicht sprechen – über den Mut derjenigen, die in einem westdeutschen Flächenland ihren Namen und ihr Gesicht in die Waagschale werfen, über den Fleiß im Wahlkampf und über den Schwung, den das Versagen der Ampelkoalition im Bund der Scheinopposition (CDU/CSU) und der echten (AfD) gab.

Fünf Ansätze also, die etwas tiefer und etwas abseits der großen Heerstraße bohren.

1. Der Zuwachs für die AfD ist der zigtausendfache Sieg der Realität über die Wahrnehmungsvorgabe.

Die Gegner und Feinde der AfD begreifen nicht, daß die Wahrnehmungsvorgaben der Meinungsmacher mit der Alltagswahrnehmung sehr, sehr vieler Leute nicht in Deckung gebracht werden können. Diese Deckungslücke ist der Durchlaß, der Spaltbreit, durch den die Indoktrinierten entwischen können.

Dieser Vorgang kann als Schritt durch eine Tür beschrieben werden, hinter der die Welt zwar immer noch dieselbe ist, jedoch ohne jene Brillen wahrgenommen werden kann, an deren Gebrauch man uns jahrzehntelang gewöhnt hat.

Was damit gemeint ist, wird am Beispiel der Masseneinwanderung leicht deutlich: Wer Monat für Monat mehr völlig Fremde wahrnimmt, deren Anwesenheit ihm nicht bereichernd und spannend, sondern bedrohlich und eben ganz fremd erscheint, mag für ein Weilchen oder sehr lange den Fehler in seiner eigenen Wahrnehmung und Haltung vermuten; aber er wird nicht auf Dauer den Grund für die Diskrepanz zwischen Erleben und Wahrnehmungsempfehlung dort suchen, wo er selbst dafür verantwortlich sein soll.

Es ist erschütternd, wie lange diese Wahrnehmungsvorgabe im Westen verfing. Aber nun scheint auch dort die Frage nach Identität, nach “Wir und Nicht-Wir” und nach der Verteidigung des Eigenen lauter und mancherorts überhaupt erst gestellt zu werden.

Immer mehr Bürger begreifen, wie entlastend es ist, sich für die eigene Wahrnehmung die passende Wahrnehmungserzählung und Begrifflichkeit zu suchen, also dem Leben im Hier und Jetzt und dem Alltag, der bewältigt werden will, den Vorrang vor der Ideologie zu geben und die Realität nicht in die Schablone einer Idee zu pressen.

Dieser Vorgang, der Mut voraussetzt, Mut und Stehvermögen ohne Rollator und Gouvernante, ist ein für jeden einzelnen Bürger und Wähler geradezu revolutionärer Vorgang. Es ist danach Vieles und Wesentliches nicht mehr in offizielle Farben getaucht, und diese Entfärbung ist ein tiefgründiger, also tief und neu gründender Vorgang.

2. Der Unterschied zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung tritt deutlicher hervor.

Wir bewegen uns mit diesem je persönlichen Befreiungsvorgang aus falschen Erzählungen und Begriffsgittern dort, wo zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung unterschieden und eine “schweigende Mehrheit” vermutet wird. Die AfD hat erst spät begriffen, daß es diese schweigende Mehrheit als stabile Größe gar nicht gibt. Gäbe es sie einfach so, hätte sie sich früher gezeigt.

Vielmehr haben diejenigen recht, die öffentliche und veröffentlichte Meinung als Beinahe-Synonym beschreiben: Wer Herr über die veröffentlichte Meinung ist, kann behaupten, die öffentliche Meinung zu repräsentieren – und tut dies auch in weiten Teilen. Denn diese Behauptung wirkt zurück auf den Herdendrang der Masse.

Es ist deshalb von entscheidender, also von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es erstmals freie Medien gibt, die eine zweite, eine alternative öffentliche Meinung veröffentlichen und rückprägen. Der Satz, daß ein politischer Wandel in Deutschland stark davon abhänge, ob die Simulation von Pluralität im Bereich staatsfinanzierter Medien aufgebrochen würde, ist ganz richtig.

Nur so ist die Rede von einer schweigenden Mehrheit sinnvoll: Sie ist im selben Moment vorhanden, in dem sie mobilisiert werden kann. Sie ist ein Potential, das dadurch erst entsteht, daß man ihm eine Stimme gibt. Das Wechselspiel zwischen Medienalternative und Wahlalternative ist von entscheidender Bedeutung.

Der revolutionäre Befreiungsvorgang kann auf diese Weise epidemisch werden: Wo das je persönliche Bekenntnis Resonanz in Medien erfährt, wo das Risiko des Bekenntnismuts kalkulierbar wird, gerät die Deutungshoheit der Gegner ins Wanken.

3. Die lässig eingesetzten Abwehrmechanismen gegen rechts greifen nicht mehr.

Es war jahrzehntelang so einfach für die Gegner und Feinde der identitären Selbstbehauptung: Begriffe waren toxisch aufgeladen, Themen tabuisiert, Argumente vorgestanzt, Schubladen geöffnet. Denunziation und Kriminalisierung waren leichte Übungen, wer sich rechts verortete, mußte sich Fragen stellen lassen, die völlig unstatthaft waren und ihn sofort in die Defensive zwängten.

Die Renaissance des Begriffs “rechts” und seine positive, weil lebensnahe Aufladung stehen bevor. Als der parlamentarische Geschäftsführer der AfD im Bundestag, Bernd Baumann, in einer Wahl-Runde in der ARD sagte, die anderen hätten die Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts hinzunehmen, widersprach keiner. Baumann sagte nicht “konservativ”, er sagte “rechts”, und er sagte das selbstbewußt und fast schon gelangweilt von denjenigen, die mit ihm in der Runde saßen und weiterhin irgendwie davon ausgingen, daß eine rechte Alternative gar nicht vorkommen dürfe und daß auch dieser Wahlabend wieder so etwas wie ein Irrtum sei.

Ein starkes Beispiel aus dem Wahlkampf in Bayern war der Versuch, den Chef der dortigen Freien Wähler, Hubert Aiwanger, mit einem derb antisemitischen Flugblatt aus seiner Schulzeit zu Fall zu bringen oder wenigstens für etliche Wähler unwählbar zu machen. Das eine gelang nicht, das andere verfing nicht. Im Gegenteil: Die Freien Wähler profitierten von Solidarisierungseffekten, und wer ein wenig um Ecken denken möchte, mag es für plausibel halten, daß dieser Vorgang Wähler bei den Freien Wählern hielt, die bereits auf dem Weg zur AfD waren.

Wir haben nicht ohne Grund Krahs und Sellners Bücher Politik von rechts und Regime Change von rechts genannt. Das Overton-Fenster zu verschieben und das Meinungsspektrum aufzufächern, bedeutet: Begriffe zu entgiften. Dies geschah und geschieht auch gegen die Bedenkenträger in den eigenen Reihen. Hätte man auf sie gehört, wäre die AfD heute dort, wo alle Versuche, sich zwischen sie und die CDU zu klemmen, gelandet sind: In der nicht als Alternative wahrnehmbaren Bedeutungslosigkeit.

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