Das zweite Leben des Felix D.: Russland und das Gespenst des Bolschewismus

Tscheka-Gründer, Massenmörder, Organisator des bolschewistischen Terrors – und unter Putin wieder hoch im Kurs: Felix E. Dziershynski (hier in einer Statue der Ostberliner Stasi-Zentrale) (Foto:Imago)

Am südlichen Rand von Moskau, im Stadtteil Jasenewo, in der Nähe des Butowski-Parks befindet sich der gut gesicherte Gebäudekomplex des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR. Am 11. September 2023 ist es auf diesem Gelände zu einer denkwürdigen Zeremonie gekommen: Mitarbeiter des Dienstes haben unter der Leitung des Behördenchefs, Sergej Naryshkin ein Denkmal eingeweiht. Das ist zunächst nichts Außergewöhnliches, werden doch in Russland, wie schon zu Zeiten der Sowjetunion immer wieder und zu verschiedenen Anlässen Denkmale eingeweiht. Hier war aber der Zeitpunkt und der Ort schon bemerkenswert: Es war der 146. Geburtstags von Felix E. Dziershynski, dem Begründer des bolschewistischen Terrors und ersten Vorsitzenden der Tscheka, wie damals die entsprechende Terrororganisation im Dienste Lenins abgekürzt genannt wurde. Der vollständige Name der Organisation stellt eine jener sprachlichen Monstrositäten dar, mit denen zu Zeiten der Sowjetunion die Behörden benannt waren und und die in diesem Rahmen nicht wiederholt werden sollte.

Bis August 1991 stand das Original des Denkmals auf dem heutigen Lubjanka-Platz, der damals noch Dziershynski-Platz hiess. Damals hatte eine Gruppe von Funktionären und Militärs einen Putsch gegen Staatschef Gorbatschow gewagt; am 21. August 1991 wurden die Putschisten verhaftet, und danach gefragt, was denn das Ziel ihres Putsches gewesen sei, antworteten sie nahezu gleichlautend: „Das Erbe Stalins retten.“ Obwohl Moskau das Machtzentrum war, traf diese Aussage einen empfindlichen Nerv der Russen – und zwar nicht nur bei Opfern des Regimes, sondern oft auch einfach nur bei Menschen, die einen prägenden Einfluss der Epoche Stalins mit all ihren Symbolen auf die Gegenwart ablehnten. Am 22. August versammelten sie sich auf dem Dziershynski -Platz, und wenige Stunden später war das Denkmal abgeräumt.

Wilder Fanatiker

Nun steht es also in einer verkleinerten Ausgabe erneut in Moskau. Zwar etwas verborgen auf dem Gelände einer Behörde, aber als Identifikationsfigur für Stalinisten durchaus exponiert. Ein Teil der Öffentlichkeit beobachtet voller Sorge die Vorgänge, die in eine Restauration sowjetischer Zustände zielen könnten. Bei der Errichtung des Denkmals wurde peinlich auf ein bestimmtes Detail geachtet: Wie das Original einst vor dem Lubjanka-Gebäude, schaut Dziershynski nun auch wieder in nord-westliche Richtung – weil aus dieser Richtung die größte Bedrohung für Russland zu erwarten sei. Zumindest in historischer Perspektive ist das eher ungenau: Ein wesentlicher Anteil am Zusammenbruch der Sowjetunion war dem desolaten Zustand des Landes zuzuschreiben und keiner äußeren Bedrohung.

An diesem 11. September sprach der Behördenchef Nayschkin davon, dass “das Bild des Vorsitzenden der Allrussischen außerordentlichen Kommission“, womit er die Tscheka meint, „zu einem der Symbole seiner Zeit, zu einem Maßstab für kristallklare Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit und Pflichttreue” geworden sei. Derart krass kann wohl nur aus alt-bolschewistischer Sicht die Geschichte verzerrt werden: Dziershinsky wurde von Zeitgenossen als wilder Fanatiker beschrieben – was auch aus zahlreichen Kreml-Dokumenten ersichtlich ist. Ausweislich des Protokolls einer Sitzung des Rates der Volkskommissare (vergleichbar mit einem Ministerrat) vom 20.Dezember 1917, auf der die verzweifelte Lage der Bolschewiki einen Monat nach dem Putsch erörtert wurde, meldete sich Dziershynski mit seinem ganz persönlichen Vorschlag, wie die Macht zu retten sei: „Revolutionen gehen immer mit Toten einher, das ist das Allergewöhnlichste! Und wir müssen jetzt alle Maßnahmen des Terrors anwenden, ihm all unsere Kraft geben! Glauben Sie nicht, dass ich nach Formen revolutionärer Gerechtigkeit suche, Gerechtigkeit passt nicht zu uns! Wir sollten keine langen Gespräche führen! Jetzt wird Brust an Brust gekämpft, nicht um das Leben, sondern um den Tod, – welche Seite wird gewinnen?! Und ich fordere eines – die Organisation revolutionärer Repressalien!

Putins Auslandsgeheimdienst streng in der Tradition der Tscheka

Gesagt, getan: Die Tscheka wurde als Terrororganisation gegründet, und der bolschewistische Staatsstreich war gerettet. Aus dieser Organisation sind zu Zeiten der Sowjetunion über verschiedene Etappen der Reorganisation jene einzelnen Organisationen hervorgegangen, die Alexander Solshenizyn summarisch als „die Bestie“ bezeichnet hat. Was an dem obigen Zitat nur undeutlich zum Ausdruck kommt, aber dennoch klar herausgestellt werden sollte, ist der Grundsatz für den Kampf der Bolschewiki, dass das eigene Leben ohne jede Bedeutung ist; wichtig ist allein, den Feind zu töten. Und an Feinden mangelte es den Bolschewiki nicht.

Nun hat der aktuelle Chef des SWR, Sergej Naryshkin, deutlich gemacht, dass er die von ihm geleitete Behörde streng in der Tradition der Tscheka verankern wird – und daher ist als Ort für das Denkmal auch nur das Gelände jener Behörde in Frage gekommen, der er seit 2016 vorsteht. Bislang war der Bezug zu der Zeit der Sowjetunion in allen staatlichen Einrichtungen Russlands eher verhalten; denn nicht in allen Teilen der russischen Gesellschaft dominiert die Bereitschaft, den SU-Repressionsapparat derart zu heroisieren oder sich gar offen in dessen Tradition zu stellen, insbesondere auch, weil die Person Lenins, des Führers des bolschewistischen Putsches von 1917, wegen seiner Verachtung für das Volk der Russen in keinem hohen Ansehen steht. Es sei nur darauf verwiesen, wie verschämt sein Mausoleum auf dem Roten Platz zu Anlässen wie den Siegesparaden am 9. Mai hinter riesigen Schautafeln bis heute verborgen wird. Wie dieser Vorstoss Naryshkins von der breiten Führungskaste Russlands aufgenommen wird, bleibt daher abzuwarten.

2024 als “Jahr des geopolitischen Aufbruchs”

Naryshkin ist ein vielseitiger Mann: Geboren 1954 in Leningrad (heute St. Petersburg), Studium der Funktechnik, anschließend verschiedene staatliche Funktionen. Er kennt Putin seit 1980. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte gleichfalls wieder unterschiedliche staatliche Funktionen inne, bis er 2016 von Putin zum Chef des Auslandsgeheimdienstes ernannt wurde. Auch seine Funktion als Vorsitzender der Russischen Historischen Gesellschaft und aös Vorsitzender des Kuratoriums der gemeinnützigen Stiftung „Stiftung Zeitgeschichte“ stellen im Russland Putins keine Beiläufigkeit dar: Vielmehr sind sie Ausdruck einer Notwendigkeit, gerade das Geschichtsbild einer Epoche zu verklären, aus der die Führungskaste des modernen Russland einen Teil seiner Traditionen ableiten möchte.

Als 1922 Dziershynskis Tscheka aufgelöst wurde und in der Nachfolgeorganisation GPU aufging, ordnete Lenin persönlich an, das Archiv der Tscheka zu vernichten. Man ahnt, worin der Vorsitzende der Russischen Historischen Gesellschaft und Nachfolger Dziershynskis heute seine Aufgabe auf diesem Gebiet sieht – sind es doch gerade Archivdokumente, die das amtlich verordnete Geschichtsbild von der Sowjetunion gefährden, weswegen auch schon aus der russischen Duma der Ruf zu vernehmen war, Dokumente aus den Beständen des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation zu vernichten.
In der jüngsten Ausgabe der Mitarbeiterzeitschrift des Dienstes „Der Aufklärer“ entwickelt Naryshkin unter dem Titel „2024 ist das Jahr des geopolitischen Aufbruchs“ seine Vorstellungen von den großen politischen Prozessen, die im kommenden Jahr die weltpolitische Situation charakterisieren werden.

Verschärfung der globalen Konfrontation

Darin geht Naryshkin davon aus, dass der Westen versuchen werde, den Zusammenbruch der derzeitigen Weltordnung zu verhindern; die euroatlantische Herrschaftskaste werde den Weg der Schaffung eines kontrollierten Chaos beschreiten und die Situation in Schlüsselregionen des Planeten destabilisieren, indem sie zunächst einige von Naryshkin als „rebellisch“ bezeichnete Staaten gegen andere ausspielen, um dann um sie herum vom Westen kontrollierte, operativ-taktische Koalitionen zu bilden. Nach seiner Einschätzung werden sich jedoch die engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten um eine Diversifizierung der Beziehungen bemühen, vor dem Hintergrund der immer offensichtlicher werdenden Unfähigkeit des ehemaligen Hegemons, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Als ernüchterndes Beispiel für viele westliche Politiker, die es gewohnt sind, sich auf besondere Beziehungen zu Washington zu verlassen, führt er die beispiellose Eskalation im palästinensisch-israelischen Konfliktgebiet an.

Für Naryshkin ist es offensichtlich, dass das kommende Jahr auf der Weltbühne durch eine weitere Verschärfung der Konfrontation zwischen dem angloamerikanischen Teil der Welt und dem Teil kommen werde, die er die „kontinentale“ nennt. Diese Konfrontation werde in allen Weltteilen, auch den entlegensten, spürbar sein. Im Hinblick auf die Situation in der Ukraine erwartet er, dass westliche Politiker aufgrund der Unmöglichkeit eines militärischen Sieges über Russland den Ukraine-Konflikt im Vertrauen auf die allmähliche Erschöpfung der Potenziale versuchen werden, die Kämpfe so weit wie möglich in die Länge zu ziehen. Gemäss seiner Einschätzung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die weitere Unterstützung für Kiew – insbesondere angesichts der zunehmenden Toxizität des ukrainischen Themas für die transatlantische Einheit und die westliche Gesellschaft insgesamt – den Niedergang der internationalen Autorität des Westens beschleunigen wird. Die Ukraine selbst wird sich weiterhin in ein „Schwarzes Loch“ verwandeln und materielle und menschliche Ressourcen absorbieren.

Erwachen aus dem liberalen Traum der Neunziger

Die arabische Welt wird nach Naryshkin auch im Jahr 2024 ein zentraler Schauplatz des Kampfes um eine neue Weltordnung bleiben. Hier werde am deutlichsten sichtbar, wie die Ansprüche der globalistischen Eliten auf die Rolle des Hegemons, in die sie nach dem Zusammenbruch der UdSSR gekommen waren, zerschlagen werden – und „Russland begrüßt diese Prozesse auf jede erdenkliche Weise und wird im Rahmen seiner Möglichkeiten auch weiterhin zum Erfolg dieser Prozesse beitragen.“ Das ist eine klare Ansage. Naryshkin führt sie zwar nicht weiter aus, aber für den verwunderten Leser kann dies nichts anderes bedeuten, als dass Russland die Destabilisierung der Weltlage befeuern wird und dass der Auslandsnachrichtendienst darin eine seiner Aufgaben sieht. Es klingt jedoch zugleich auch eher nach Rache und weniger nach einer konstruktiven politischen Gestaltung gemäß eigenen politischen Vorstellungen Russlands.

Naryshkin äußert in dem Artikel zudem seine Erwartung, dass Russland vollständig aus dem liberalen Traum der 1990er Jahre erwachen und zu seinen Wurzeln zurückkehren werde. Was er darunter versteht, wird zweifelfrei aus seinen abschließenden Ausführungen deutlich, in denen er den Begründer des sowjetischen Staatsterrorismus mit aller Deutlichkeit in den Fokus rückt: „Aus diesem Grund“ – also zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln Russlands – „wurde beschlossen, zur Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“ auf dem Territorium des Hauptquartiers des russischen Auslandsgeheimdienstes in Jasenewo ein Denkmal für den “herausragenden Staatsmann, den Gründer des russischen Auslandsgeheimdienstes” zu errichten, der ein “Symbol für Zielstrebigkeit, Selbstlosigkeit, Entschlossenheit, ein Held sei, der “bis zuletzt der Idee treu blieb, eine neue, gerechte Welt aufzubauen.“ In diesem hohlen Pathos der Bolschewiki war auch früher schon wenig Sinn, jedoch eine gehörige Portion Entschlossenheit zu erkennen gewesen, die kein anderes Ziel hatte, als die Reihen der Gleichgesinnten zu schließen und den nicht ganz so gleich Gesinnten zu drohen. Was das anbelangt, ist Naryshkin und seinen Tschekisten des neuen Russland tatsächlich die Rückkehr zu den Wurzeln der Bolschewiki gelungen.

Zwischen Stalin und Peter dem Großen

In seiner Video-Ansprache zum Jahreswechsel zeigt sich Naryshkin von einer anderen Seite. Da ist die Pose entschlossener Pflichterfüllung im Sinne Dziershynski dem liebenswürdigen Lächeln eines Staatsbeamten gewichen, der seinen Dienst als einen Dienst an allen Russen sieht. Zum Jahreswechsel gibt er sich als russischer Patriot – und bezieht sich nun auf Peter den Großen. Man hat den Eindruck, als wolle er den Russen sagen: „Ich liebe Euch doch alle.“ Das gehört zum Repertoire russischer Politik und Propaganda: Mal ist man der russische Patriot, der bereit ist, sein Herzblut Mütterchen Russland zu opfern; dann wieder der Bolschewik, der mit Härte die Zeit von 1917 bis 1991 einschliesslich ihrer Methoden beschwört. Sergej Nayshkin und mit ihm das Milieu, das voller Wehmut der Zeiten der Sowjetunion gedenkt, scheinen zu spüren, dass die Zeit der Sowjetunion nicht in eine historische Kontinuität der russischen Geschichte passt. Mit aller Phantasie wird dies zwar versucht – jedoch mit begrenztem Erfolg. Der Bruch ist vorhanden und unüberbrückbar.

Während Naryshkin den Geist Dziershinskys beschwört, kommt Russland mit seiner Geschichte aus der Zeit der Sowjetunion nicht zur Ruhe. Die aus der Zeit der Sowjetunion stammenden Rituale der Heldenverehrung, die nun auch wieder eine Erscheinung des Krieges gegen die Ukraine geworden sind, haben etwas Verkrampftes und die Vehemenz, mit der ein amtliches Geschichtsbild in die Öffentlichkeit getragen werden soll, lässt spüren, dass es dahinter etwas gibt, das verborgen bleiben soll, aber bei gegebenem Anlass sofort die hauchdünne Patina durchstößt, unter der die Schrecken der Vergangenheit im Laufe der Zeit verblassen. Dann ist alles wieder, als wäre es erst gestern gewesen.

Stilles Entsetzen

So bewegt derzeit der Fall von Michail Chamonin die Gemüter: Geboren 1922 oder 1924, aus problematischen familiären Verhältnissen kommend, hat er es zu einer regelrechten Verwahrlosungs-Biografie gebracht, wobei auch die Unterlagen verraten, wie offensichtlich brutalisiert der Alltag und wie hart der Überlebenskampf in den 1930er Jahren gewesen sein muss. Doch wie wenig verlässlich die Angaben in den Akten auch sind: Gesichert ist, dass Michail Chamonin der Diebstahl von zwei Broten um Verhängnis wurde. Obwohl die Umstände unklar sind, geht aus den Dokumenten hervor, dass der zuständige Ermittler sein Alter von 13 auf 15 Jahre hochgesetzt hatte, um ihn am 9. Dezember 1937 auf dem Butowo-Gelände in Moskau erschießen zu lassen (warum die Altersveränderung vorgenommen wurde, ist unklar, war es doch damals gesetzlich möglich, bereits ab dem 12. Lebensjahr die Todesstrafe zu verhängen).

Nun hat sich in Russland die Debatte daran entzündet, ob es in damaliger Zeit wirklich ein Terror-Regime gegeben hat, oder ob damals, selbst in der Extremphase des Stalinismus und der Großen Säuberungen, nicht doch alles streng nach Recht und Gesetz gegangen ist, womit es in diesem Fall halt doch den „Richtigen“ erwischt hat. So mancher Russe verfolgt diese Debatte mit stillem Entsetzen: Da gibt es bis heute Versuche, zu rechtfertigen, was gern in stiller Trauer als abgeschlossenes Kapitel Russlands gesehen würde – während andere damit beschäftigt sind, die „Bestie“ wiederzubeleben und dies auch noch in aller Deutlichkeit zeigen.