„Bauernproteste“: Die Aktuelle Kamera im Fernsehen der DDR am 9. Oktober 1989
Wie sich die Wortwahl doch gleicht. Die aktuelle „Berichterstattung“ samt Kommentierung des Protestgeschehens in ARD und ZDF hat frappierende Ähnlichkeit mit dem Tonfall im Fernsehen der DDR.
von Max Erdinger
Die „Aktuelle Kamera“ am 9. Oktober 1989: „… der Republik äußerten sich empört über Versuche, mit antisozialistischen Ausschreitungen die Veranstaltungen zum Jahrestag zu stören. Neue Aufgaben und Probleme, so brachten sie zum Ausdruck, könnten nicht mit provokatorischen Zusammenrottungen, sondern nur durch gemeinsames Handeln gemeistert werden.“
Einspielung mit „Bürgerinterview 1“, Norbert Findling, Diplom-Physiker / Potsdam: „Also ich war gestern unfreiwilliger Zeuge der Demonstrationen geworden in Potsdam auf der kleinen Gottwaldstraße und muß eigentlich sagen, daß es für mich erschreckend ist, daß wir … daß es Leute gibt, die keine anderen Wege finden, als über Demonstrationen ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen und sich zu artikulieren, und wenn man das vorher so sieht im Fernsehen und auch im Westfernsehen, dann wundert man sich eigentlich, wie es dazu kommt, aber es sind dann doch Einige, die versuchen, die Polizei aus der Reserve zu locken und ganz aggressiv gegen die Polizei vorzugehen“.
Einsspielung mit „Bürgerinterview 2“, Jeanerik Brzoska, Schlosser / Arnstadt: „Das ist nicht in Ordnung. Solche Kräfte sollte man nicht unterstützen. Deswegen find‘ ich auch gar nicht in Ordnung. Bei uns kann jeder froh sein, daß er seine Arbeit hat, und daß er, wenn er möchte, für sein Glück selbst verantwortlich ist. Ist jeder.“
Anschließend der Studiokommentar von Olaf Dietze: „Die Randalierer haben ins Visier genommen, was bisher aufgebaut wurde und weiter aufgebaut wird, eben den Sozialismus. Das ist auch der Auftrag der Reporter aus dem Westen, wenn sie sich in unserem Berlin zum Schrittmacher antisozialistischer Attacken machen, ja, Aktionen direkt dirigieren. Hahne vom ZDF und Andere waren ständig mittendrin. Wenn die Kameras rot zeigten, wurden die vorgebeteten Parolen nachgebrüllt und manche schrien: ‚Keine Gewalt! Denn sie wissen nicht, was sie tun!‘. Doch die auf dem Foto wissen das sehr wohl. Auch geistige Urheber von diesseits der Grenze, die im Hintergrund agieren. Auch die, die aufmischen wollen, egal wo und mit wem. Gut, daß denen deutlich eine Grenze gezeigt wurde. Augenzeugen berichten von einer jungen Mutter, die verantwortungslos ihr Kind mit in die Provokation hineingezogen hat. Wusste sie wirklich, was sie da tat als Statist in einem antisozialistischen Szenario? Es steht fest, daß die Randalierer, zumal ferngesteuert, hier niemanden repräsentieren, allenfalls sich selbst. Insofern werden sie keine Chance haben.“
Schlüsselbegriffe & Analyse
- Demonstrationen = „Ausschreitungen, provokatorische Zusammenrottungen“. Alternative: „Gemeinsames Handeln“. Wiederzufinden heute in „wir müssen, wir brauchen & wir dürfen nicht“, „wir alle gemeinsam“, der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ und dessen „Feinde“, die „Spalter“. Auffälligkeit: „Sie, Herr Bundeskanzler“ vs. „Deine Meinung zählt“.
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„Unfreiwilliger Zeuge“ = ich habe damit nichts – und ich will damit auch nichts zu tun haben.
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„… muß eigentlich sagen“ = habe sorgfältig abgewogen und muß nun eigentlich. Tatsache: Ich weiß, was ich vor den Kameras der AK sagen soll und darf.
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“ … für mich erschreckend“ = Rückzug ins pseudodemokratische Schneckenhaus per „für mich“ plus Pseudoemotionalisierung: „erschreckend“. Demonstrationen sind „für ihn erschreckend“ in der Deutschen Demokratischen Republik. Bösewichter haben ihm Unwohlsein verursacht. Der arme Mann. Sein schöner sozialistischer Staat, der demokratische: Gefährdet. Wie erschreckend.
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„… zum Ausdruck zu bringen UND zu artikulieren“ = Pseudodifferenzierung als Intellektsimulation.
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„Fernsehen und Westfernsehen“ = Das richtige Fernsehen und das falsche Westfernsehen. Analogie 2024: West-„Information“ zur Ukraine jederzeit, russische „Ostpropaganda“ auf keinen Fall.
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„… man wundert sich“ = man hat sich zu wundern. Und zwar, nachdem man „für mich erschreckend“ irgendetwas. Von „für mich“ zu „ihr alle müsst“.
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“ … aggressiv gegen die Polizei vorgehen“ = Aggressiv vorgehende Polizei wurde provoziert.
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Demonstranten = Randalierer, „Kräfte“. Gegen „randalierende Kräfte“ hilft keine „Schwäche“ – und ein „randalierender Staat“ hat gefälligst für eine Denkunmöglichkeit gehalten zu werden.
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“ … ins Visier genommen“ = durchs Zielfernrohr geschaut, folglich „schußbereit“.
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„… geistige Urheber im Hintergrund“ = feige und finstere Gestalten, die im Verborgenen das Böse geistig urheben.
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Randalierer, zumal ferngesteuert = willenlose, aggressive „Verführte und Fehlgeleitete“, desinformierte Fake-News-Opfer.
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Niemanden repräsentieren = „Wir alle gemeinsam“ brauchen nichts auf die Proteste zu geben. Wir sind schließlich schon Demokraten in der deutschen Republik. Demonstranten überflüssig.
Angesichts der Berichterstattung von ARD & ZDF zu den gegenwärtigen „Bauernprotesten“ stellt sich einmal mehr die Frage, wer anno 1990 wen „geistig geschluckt“ hat: Die BRD die DDR – oder die DDR die BRD. Der „Wertewesten“ ist in etwa so werthaltig, wie die Deutsche Demokratische Republik demokratisch gewesen ist. Nämlich gar nicht.