Tucker Carlsons Putin-Interview: Nichts Neues aus Moskau

Vergangene Nacht ging das angekündigte Putin-Interview von Tucker Carlson pünktlich um 24.00 Uhr online. Es dauerte über zwei Stunden und wurde allein bei „X“ inzwischen 120-Millionen mal angeklickt. Meinereiner ging dann kurz nach 2 Uhr heute morgen mit zwiespältigen Gefühlen zu Bett.

von Max Erdinger

Nordstream-Sprengung: Tucker Carlson hat ein Alibi – Screenshot TCN

Nichts von dem, was Wladimir Putin in diesem Interview ausführte, war mir neu. Gut möglich ist aber, daß es Millionen anderer Zuschauer neu gewesen ist – und da wäre dann wieder zu unterscheiden zwischen Deutschen, Europäern allgemein und eben den Amerikanern. Ob nicht Millionen von Amerikanern bereits zehn Minuten nach Beginn des Interviews wieder ausgestiegen sind, kann man zwar nicht wissen, aber so, wie ich meine Pappenheimer von jenseits des Atlantiks kenne, wird es wohl so gewesen sein. Das ist schade, aber es ist meiner Gewißheit nach einer Blauäugigkeit des Carlson-Teams geschuldet. Wladimir Putin erging sich in der ersten halben Stunde des Interviews nämlich in einem ausführlichen Exkurs durch die russische Geschichte. Die geht zurück bis zu Rurik ins 9. Jahrhundert. Putin hatte 30 Sekunden bis zu einer Minute „Exkurs“ angekündigt. Geworden sind es dann 25 interessante Minuten, allerdings wohl kaum für das amerikanische Publikum. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß man Amerikaner mit Exkursen in die Geschichte zu Tode langweilen kann. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, daß sich jede Menge Amerikaner bereits nach spätestens zehn Minuten aus dem Interview ausgeklinkt haben dürften. Weglassen konnte das Carlson-Team den Exkurs dann bei der Veröffentlichung des Interviews aber auch nicht, weil sich Putin im Verlauf des weiteren Gesprächs mehrmals darauf bezog.

Was Wladimir Putin bei denen erreicht haben dürfte, die dennoch dabeigeblieben sind, ist im günstigsten Fall, daß sie heute ein Gespür dafür haben, was der Unterschied sein könnte zwischen einer, über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren gewachsenen Nation, unter deren Dach sich verschiedene Religionen und Kulturen zusammengefunden haben, um dann eben zu Russen zu werden, und einem schnell gewachsenen „Schmelztiegel“ in der „Neuen Welt“ mit 250 Jahren Geschichte, die größtenteils europäisch geprägt gewesen sind – wobei sich die kulturelle Dominanz der Europäer peu a peu verabschiedet, so daß in den USA heute von einer Identitätskrise zu reden ist, die den Russen fremd ist. Die Russen haben nach über tausend Jahren wesentlich mehr als nur eine Verfassung, hinter der sie sich mangels Alternativen sammeln müssten. Dieses russische Bewußtsein wiederum ergibt dann einen ganz anderen Blick auf die Ukraine mit Kiew als der Wiege Russlands, als es Amerikaner ihrer eigenen nationalen Kultur gemäß nachvollziehen könnten. Für die reichen kulturellen Gemeinsamkeiten von Ukrainern und Russen herrscht in den USA wenig bis gar kein Verständnis – und deshalb fehlt es dort auch am Respekt davor.

Diplomat Putin

Erkennbar war Wladimir Putin nicht daran interessiert, das Interview zu nutzen, um „ein Faß aufzumachen“. Vielmehr schlug er versöhnliche Töne an, blieb aber seiner bestens bekannten Generallinie treu, derzufolge Gespräche jederzeit möglich seien, und daß, wer sich einem Dialog verweigere und mit militärischen Mittel seine Ziele verfolge, in Russland einen unnachgiebigen und unbesiegbaren Gegner gefunden habe. Wie sich die Dinge in der Ukraine weiterentwickeln, hänge ganz allein von den Entscheidungen der Amerikaner ab. In dem Zusammenhang wies er auch den Vorwurf eines russischen „Angriffskrieges“ in der Ukraine zurück. Der Einmarsch dort sei vielmehr erfolgt, um einen seit 2014 andauernden Krieg der von den USA unterstützten Ukronazis gegen die Minderheit der ethnischen Russen auf dem Territorium der Ukraine zu beenden. Hier verwies Putin auch auf die zahlreich gebrochenen Versprechen und Abkommen durch den Westen (Minsk), die einseitige Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen und die absprachewidrige NATO-Osterweiterung. Er bedauerte, daß der unterschriftsreife Friedensvertrag von Istanbul aus dem März 2022 vom Westen torpediert wurde und verwies dabei auf die unrühmliche Rolle, die der britische Ex-Premier Boris Johnson übernommen hatte. Die Sanktionen der USA und der EU gegen Russland nannte er dumm, da sich der Westen dadurch ins eigene Fleisch schneide. Soweit also alles bekannt für jeden, der sich mit der Ukraine seit dem Maidan-Putsch 2013/14 intensiv befasst hatte. An Putins Analyse gibt es nichts auszusetzen, an den Märchengeschichten der westlichen Propagandapresse allerdings sehr viel.

Bevor es dann um die Sprengung der Nordstream-Pipeline ging, wollte Putin von Carlson wissen, ob die Amerikaner angesichts einer Staatsverschuldung von mehr als 33 Billionen (amerik. „Trillions“) Dollar und jeder Menge Probleme im eigenen Land nichts besseres zu tun hätten, als sich tausende Kilometer vom eigenen Territorium entfernt einen aussichtslosen Krieg in der Ukraine aufzuhalsen.

„You“

Das englische „You“, das unterschiedslos für „Du, Sie, Ihr und Euch“ verwendet wird, gab Anlaß für einen kurzen Moment der Heiterkeit. Carlson: „Wer hat Nordstream gesprengt?“ – Putin: „You!“. Dabei deutete er mit beiden Zeigefingern auf Carlson. Der erwiderte schlagfertig, er sei an dem fraglichen Tag (26. September 2022) mit etwas Anderem beschäftigt gewesen. Herzliches Gelächter. Alle wissen, wen Putin gemeint hatte, ohne daß er dank der Verfügbarkeit von „You“ hätte „die Amerikaner“ sagen müssen. Deshalb kann auch heute niemand behaupten, Putin habe genau das gesagt. Hat er es gemeint? „Wir“ wissen es nicht. Der FSB weiß es aber. Würde man den fragen, dann würde er vermutlich ebenfalls mit „You!“ auf die Frage antworten, wer Nordstream zerstört hat. Im Übrigen würde Russland die eine, intaktgebliebene Röhre sofort nutzen, um wieder billiges Gas nach Deutschland zu liefern. Es seien die Deutschen, die den Gashahn geschlossen halten. Putin versteht auch nicht, weshalb Polen im Rahmen der paneuropäischen Zahlungsströme von Deutschland profitiere, das die Zahlungen an andere EU-Länder schließlich erwirtschaften müsse, um zugleich die andere Gas-Pipeline (Jamal) nach Deutschland geschlossen zu halten, anstatt den Gastransit durch Polen nach Deutschland einfach zu gestatten.

Kriegsende

Wladimir Putin ist sich sicher, daß der „Wertewesten“ lieber heute als morgen aus dem Ukrainekrieg aussteigen würde, daß er aber nicht weiß, wie er das machen soll ohne hinterher saudumm dazustehen. Das sei aber nun wirklich nicht sein Problem. Wer sich die Suppe eingebrockt hat, der müsse sie eben auch auslöffeln. Das Ausmaß an Inkompetenz und Verstiegenheit, das ihm in Europa heute begegne, habe er sich früher einfach nicht ausmalen können. Die Weltgeschichte sei durchzogen von Geschichten über Imperien, die entstanden und wieder untergegangen seien. Der Niedergang des Römischen Reiches habe sich über 500 Jahre hingezogen. Bei den USA gehe es allerweil wesentlich schneller. Das alles müsse gar nicht sein, wenn die USA endlich akzeptieren würden, daß sie nicht mehr die Weltwirtschaftsmacht Nummer eins sind und, statt auf militärische Stärke, auf Kooperationsbereitschaft in einer multipolaren Welt setzen würden. An Russland und den BRICS-Staaten führt kein Weg mehr vorbei. Zwar sei die russische Wirtschaft vergleichsweise klein im Verhältnis zur amerikanischen und der chinesischen oder der indischen, aber allein die Bodenschätze, die in Russlands Erde unerschlossen vor sich hinschlummern, hätten einen Wert von geschätzten 80 Billionen US-Dollar. Zudem ist die russische Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP wesentlich geringer als in den USA.

Zwei „Narrativ“- Ebenen

Alles in allem verstärkte sich durch dieses Interview bei meinemeinen der schon länger gehegte Verdacht, daß es die Weltöffentlichkeit mit zwei „Narrativ“-Ebenen zu tun hat, von denen die zweite ihrer weltwirtschaftlichen Komplexität wegen gar nicht flächendeckend ausgebreitet werden kann. Um das öffentliche Interesse u.a. am Ukrainekrieg zu befriedigen, bietet sich die erste an, weil sie in sich nicht verkehrt ist, wenn auch nach meiner nunmehrigen Einschätzung nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend für das amerikanische Interesse an Russland dürften tatsächlich die ungeborgenen, materiellen Werte sein, die auf einem Neuntel der globalen Landfläche auf Erschließung und Verwertung warten. Um sich an denen gütlich zu tun und sie zu verwerten, um so wenigstens zu einem gewissen Teil die amerikanischen Staatsschulden durch „Realitäten“ zu decken und den US-Dollar als Weltreservewährung zu retten, wollen die USA unbedingt Russland „portionieren“, um dann die einzelnen Portionen zu ihrem eigenen Nutzen aufeinander zu hetzen und jede Seite gegen jede andere zu instrumentalisieren resp. waffentechnisch zu unterstützen und so auf einer weiteren Ebene den großen Reibach zu machen. Putin ist eben kein Jelzin. Das ist das ganze Problem für die Amis.

Analog gilt das auch Israelis und Palästinenser. Die Historie ist zwar für sich genommen plausibel genug als Erklärung, aber mir kommen die alternative Seidenstraße samt Netanyahus Begeisterung dafür und das noch zu erschließende Gasfeld „Leviathan“ samt dessen Gewinnversprechen vor der levantischen Küste ebenfalls als geeignete Erklärung vor. Prinzipiell ist es wohl so, daß Relevanz hat, worüber in den Medien nicht oder nur sehr eigeschränkt gesprochen wird. Nachrichten wären das, was in den Nachrichten kaum vorkommt. „Etwas an die große Glocke hängen“ hat seinen abwertenden Beigeschmack schließlich nicht umsonst.

Zwar sind Wladimir Putins Einlassungen meiner Überzeugung nach nicht verkehrt und auch völlig ausreichend als Erklärung für die gräßlichen Vorgänge in der Ukraine. Das heißt aber noch nicht, daß die vorgebrachten Begründungen auch die ausschlaggebenden sind. So viel steht jedenfalls fest: Das ganze, publizistisch verwertbare Gelalle vom bösen Finsterrussen, der Bedrohung von Demokratie, Freiheit und „westlichen Werten“ durch Russland sowie deren Verteidigung ausgerechnet durch – Spott & Hohn! – den stocktotalitären, autoritären und antidemokratischen Despoten Selenskyj, ist Politentertainment für Naive. Womit wir dann in Deutschland wären, wo objektive Urteilskraft, Wissen und Skepsis längst dem mehrheitlichen Wunsch danach gewichen sind, unauffällig im Strom der gleichgeschaltenen Meinungsinhaber:innen und hypermoralistischen Haltungsstarken mitzuschwimmen. In Deutschland gilt: Alle „die Menschen“ sind gleich – und eine „Haltung“ zu vertreten, darf noch der größte Dummkopf für sich in Anspruch nehmen. Da ist Wladimir Putin schon ein ganz anderes Kaliber. Und Tucker Carlson ebenso.