Wer verstehen will, warum sich der britische Außenminister David Cameron mit seiner Äußerung, die von Großbritannien an die Ukraine gelieferten Langstreckenraketen dürften auch auf Ziele in Russland abgefeuert werden, gefährlich weit aus dem Fenster gelehnt hat, muss um die innenpolitische Situation im Vereinigten Königreich wissen. Dort haben nämlich die seit 14 Jahren regierenden Konservativen, denen Cameron angehört, restlos abgewirtschaftet. Die kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen haben das mit massiven Verlusten der Konservativen noch einmal deutlich gemacht.
Von Wolfgang Hübner
In allen Meinungsumfragen liegt seit langer Zeit die bislang oppositionelle Labour Party meilenweit vor den innerlich zerstrittenen Konkurrenten, die in ihren Regierungsjahren nicht weniger als drei Ministerpräsidenten und zwei Ministerpräsidentinnen verbraucht haben. Die große Mehrheit der Briten ist es offenbar leid, erneut eine Regierung im Amt zu bestätigen, die sich unfähig zeigt, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, sowie die hohe Migration und die zunehmenden ethnischen Konflikte erfolgreich zu bekämpfen.
Zudem haben die Konservativen in der rechts von ihnen positionierten Partei „Reform UK“, gegründet vom Brexit-Helden Nigel Farage, einen immer beliebter werdenden politischen Rivalen, der sich schon jetzt als „wahre Opposition zu Labour“ sieht. Was Ministerpräsident Sunak, Cameron sowie dessen Nachfolger und Möchtegern-Churchill Boris Johnson jetzt noch retten könnte, wäre wohl nur noch eine Eskalation des Kriegs in der Ukraine, zu dem die Briten und gerade Johnson außerordentlich viel beigetragen haben und es noch immer tun.
Doch die Ukraine sind nicht die Falkland-Inseln und die Atommacht Russland ist nicht Argentinien wie weiland zu Zeiten der konservativen Ikone Margaret Thatcher. Moskau hat sehr energisch und hart auf Camerons Drohungen reagiert. Russland will notfalls Angriffe auf britische Einrichtungen außerhalb der Ukraine unternehmen, sollte es zu Attacken von Langstreckenraketen aus englischer Produktion gegen russisches Territorium kommen. Angesichts der verzweifelten Lage der britischen Konservativen sollte das aber besser niemand völlig ausschließen: Cameron und Co. haben nicht mehr viel zu verlieren.