Es war einmal ein gar friedliches Land, in dem von den weiten Ufern des Nordseestrandes bis hin zu den mächtigen Gipfeln der Alpen Tiere friedlich nebeneinander weideten. Überall gab es grüne Wiesen, auf denen die Pferde, die Kühe, die Ziegen und die Schafe sich tummelten.
Gastbeitrag von Meinrad Müller
Doch mit der Zeit veränderte sich etwas: Immer mehr Wiesen begannen, von den geheimnisvollen Blaublümchen durchzogen zu werden. Diese seltenen Blumen wuchsen nur dort, wo die Erde besonders fruchtbar und das Gras besonders saftig war. Auf einmal entdeckten die Bauern, dass ihre Tiere – ob Pferde, Kühe, Ziegen oder Schafe – sich mehr und mehr auf jenen Blaublümchenwiesen der Nachbarn tummelten und die gewöhnlichen Gräser ihrer Wiesen verschmähten.
Bald merkten die Bauern, dass die Blaublümchenwiesen nicht gleichmäßig über das Land verteilt waren: Im Westen des Landes machten sie gerade einmal ein Fünftel der gesamten Weideflächen aus, während im Osten das wunderschöne Blau über ein Drittel des Weidelandes durchzog. Sie sahen, dass die Tiere immer wieder von ihren eigenen Wiesen wegliefen und lieber auf den Blaublümchenwiesen der Nachbarn grasten. Sie zeigten so, dass ihnen die gewöhnlichen Gräser nicht mehr schmeckten.
Die Bauern, deren Wiesen keine Blaublümchen hatten, schauten neidisch, wie ihnen ihre Tiere davonliefen. Sie wurden immer missmutiger und begannen gegen die Blaublümchenwiesen zu kämpfen.
„Verbietet die Blaublümchen!“, forderten sie aufgeregt. „Es ist nicht gerecht, dass unsere Tiere uns verlassen!“ So zogen sie schließlich vor das große Gericht und forderten, dass das Blaublümchen generell verboten werden sollte.
„Sie müssen ausgerissen werden, mitsamt der Wurzel!“, riefen die mit den roten Hüten. „Ja, alle Blaublümchen im ganzen Land!“, stimmten die Schwarzjacken zu. Sie waren fest entschlossen, die schönen Blaublümchen zu vernichten – nicht etwa, weil es den Tieren schadete, sondern weil es ihre eigenen Wiesen entwertete.
Doch die Richter wussten um die Natur der Blaublümchen. „Wie soll man die Blümchen überall ausreißen? Sie sind ein Geschenk der Natur!“, erwiderten sie. „Der Wind der Geschichte hat sie in alle Winde getragen, und sie wachsen, wo sie wollen.“
Daraufhin entbrannte ein Streit, wie ihn das Land noch nie gesehen hatte. Die Bauern verbrachten ihre Tage nicht mehr auf den Feldern, sondern in endlosen Versammlungen und Wortgefechten. Sie führten hitzige Debatten darüber, wie man am besten gegen das Blaublümchen vorgehen könnte. Jeder Bauer war fest entschlossen, seine „Rechte“ mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Der Frieden, der einst in dem schönen Land geherrscht hatte, war dahin.
Die Tiere aber – die Pferde, die Kühe, die Ziegen und die Schafe – kümmerten sich nicht um die Streitereien der Menschen. Sie grasten zunehmend lieber auf den Blaublümchenwiesen, wo es ihnen gefiel, und suchten stets die besten Plätze mit den schmackhaftesten Blaublümchen. Denn für sie waren es doch nur Blumen, und sie verstanden nicht, warum die Menschen sich so sehr darüber aufregten.