Am 30. September 1989 verkündete Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag die Ausreisegenehmigung für Tausende DDR-Flüchtlinge.
Von Jens Tier
Mit diesen spektakulären Auftritt unter den tosenden Applaus der vor dem Balkon verharrenden DDR Flüchtlinge, für die ein anderes Verhandlungsergebnis die sichere Verhaftung in der DDR bedeutet hätte, wurde das Schweigen um die Flucht tausender DDR Bürger die bereits den ganzen Sommer 1989 andauerte, endgültig gebrochen.
Von den gleichgeschalteten Systemmedien der DDR wurde ein Mantel des Schweigens über die Flucht so vieler Menschen gelegt. Dieses hilflose Schweigen, die fehlende Antwort der Politik, die Reformunfähigkeit und Reformunwilligkeit machte die Menschen in der DDR besonders wütend. Jeder merkte natürlich, dass immer mehr Menschen flüchteten, ob Freunde, Arbeitskollegen oder Nachbarn. Nach der spektakulären Szene in der Prager Botschaft waren die Massenflucht und die sich über Jahrzehnte aufgestauten, unausgesprochenen Problemen nicht mehr in der Öffentlichkeit zu verbergen.
Die Auflösungserscheinungen, das nahende Ende der DDR war damals überall zu spüren. Nur wusste Niemand, wie dieses Ende aussah. Das blutige Ende des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 hatten viele Menschen noch deutlich vor Augen.
In der damaligen DDR wussten mit Sicherheit 90% der Menschen Bescheid, dass sie von den Systemmedien und der Einheitspartei nur belogen wurden, sie hatten die Nase voll von der staatstragenden Partei SED und ihren Blockparteien, CDU und Freie Demokraten, die nur Scheinparteien waren und die die Alibifunktion vom Bestehen verschiedener politischer Parteien erfüllen umso Demokratie zu simulieren.
Die Diktatur des Proletariats war kein leeres Versprechen. Mittels tausender haupt- und nebenberuflicher Spitzel, des berüchtigten Geheimdienstes, mittels straff organisierter Polizei, den Betriebskampfgruppen – eine paramilitärische Organisation von Reservisten, dem Militär und im Hintergrund der stationierten Sowjetarmee die den unbewaffneten Bürgern permanent gegenüber standen, war die Diktatur allgegenwärtig.
Oppositionelle verschwanden über Nacht und wurden nie wieder gesehen, deren Familien bedrängt, verhört und ihrer Arbeitsplätze beraubt. Kinder wurden staatlich entzogen und zwangsadoptiert. Fluchtmöglichkeiten über die mittels perverser Selbstschussanlagen und Minenfelder ausgestatten, perfekt gesicherte Staatsgrenze in Richtung Westen gab es praktisch nicht.
Und dennoch, der unbändige Freiheitswille, die unbedingte Disziplin im friedlichen Protest der DDR Bürger erreichte am 09. November 1989 das schier Unglaubliche, den Fall der Berliner Mauer, das Ende des eisernen Vorhangs, das Ende des kalten Krieges in Europa.
Dem patriotischen Einsatz des konservativ, liberalen Politikers Hans- Diedrich Genscher, gebürtig in Halle Saale, ist es mit zu verdanken, dass wir heute wieder in einen gemeinsamen, wenn auch nicht vollständig geeinten Deutschland leben können.
Nach vielen Irrungen und Wirrungen, Missverständnissen und Konflikten zwischen Ost und West, meinten Viele auf einem guten Weg in eine gemeinsame, goldene Zukunft zu sein.
Dann kam Corona, die Zeit des bösen Erwachens, Grundrechte wurden ausgesetzt, der Staat zeigte sein hässliches, totalitäres Gesicht. Bei den Menschen, die schon 1989 für ihre Freiheit gekämpft haben, löste dieses Gebaren, die brutale Umsetzung aller staatlichen Zwangsmaßnahmen ein Déjà-vu aus. Die vermeintlich längst hinter uns gelassene Diktatur, der autoritär und totalitär auftretende Staat erinnerte sofort an schlimmste Zeiten. Wer schon einmal eine Diktatur am eigenen Leib erlebt hat, der ist besonders sensibel und empfänglich für solche negativen Veränderungen. Das untrügliche Gespür für Unfreiheit, für Bevormundung, für Diktatur ist im Osten unserer Republik ein antrainierter Reflex.
Im Westen unserer Republik, in den sozialen Netzwerken kursiert derzeit die Meinung:
„…30% der Ostdeutschen zeigen keinen Respekt mehr und treten dieses wichtige Vermächtnis heute mit Füßen.“
Dem kann ist nur zu entgegnen: Seien sie froh, dass sie den Osten haben! Kaum Jemand, der besser vor einer aufziehenden Diktatur warnen kann, als ehemalige DDR Bürger. Der Osten ist mit seinen feinen Antennen das Frühwarnsystem vor der Diktatur! Falls sie bis jetzt Mitteldeutschland noch nicht für voll genommen haben, dann sollten Sie das unbedingt tun! Sprechen Sie mit Ostdeutschen, belehren sie die Menschen nicht – nehmen sie die Menschen ernst, hören sie einfach zu, es könnte eine Offenbarung sein.
Danken Sie Gott für die Widervereinigung und die geschenkten Menschen aus dem Osten! Wer jetzt weiter schläft, wird garantiert in einer Diktatur, in einer Dystrophie Orwell`schen Ausmaßes aufwachen.
Diese „geschätzten 30%“ sind die wahren Freunde der Freiheit und der Demokratie, denn es sind die, die selber denken, lesen, rechnen und handeln können. Es sind die, die sich von den Systemmedien und Systemparteien, die immer mehr der Einheitspartei der DDR gleichen, abgewandt haben. Es sind die Menschen, die 1989 mit unbändigen Freiheitswillen, mit Mut und den blanken Händen eine bis an die Zähne bewaffnete Diktatur gestürzt haben – und sie werden es wieder machen!
Es sind die, die den Mut haben und sich trauen, der Nazikeule zum Trotz, die derzeit einzige Oppositionspartei zu wählen und im Osten zur Volkspartei zu machen.
Sie machen das aber nicht, weil sie die Diktatur wollen, sondern weil sie die Diktatur kennen!