Als die FDP das letzte Mal davor stand, eine deutsche Regierungskoalition zu verlassen, vor 42 Jahren, geschah dies, um eine verglichen mit heutigen Maßstäben hochvernünftige, durchaus passable Regierungspolitik der über acht Jahre amtierenden sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt durch eine schließlich noch erfolgreichere, für das Land segensreiche schwarz-gelbe Regierung Kohl abzulösen; ein Vorgang, der als “Wende” in die Zeitgeschichte einging, bevor dieser Begriff dann für die sieben Jahre später einsetzenden Umwälzungen in der DDR und den Zusammenbruch des Ostblocks neubesetzt wurde. Doch weder in der alten noch der neuen Bundesregierung hat die von Hans-Dietrich Genscher geführte FDP je Verrat an Deutschland und den eigenen Idealen begangen; und es ging damals auch nicht um ihr eigenes Überleben. Das wären auch schon die wichtigsten Unterschiede zur heutigen Situation, Anfang November 2024, da nun offenbar eine nicht mehr ernstzunehmende, durch politische Selbstkastration und blanken Opportunismus aller liberalen Ideale und Inhalte beraubte Resterampe-Linder-FDP spät, ja viel zu spät versucht, die Notbremse zu ziehen, um die verheerendste, bürgerschädlichste und wirtschaftsfeindlichste Politik seit 1945 zu beenden. Eine Politik gleichwohl, an der sie selbst drei katastrophale Jahre lang maßgeblichen Anteil hatte.
Aber da gibt es noch eine Parallele zu 1982: Damals läutere Genscher den Bruch mit der SPD ein, indem er mit einem offiziell “internen” FDP-Papier die Sollbruchstelle schuf, an der sich ein unüberwindbarer Koalitionszzwist zwingend entzünden musste. In diesem sah Genscher die Bundesrepublik am Scheideweg, postulierte die Notwendigkeit einer neuen Wirtschaftspolitik und forderte einen kompletten Kurswechsel, der mit dem bisherigen rotgelben Bündnis nicht zu machen sei. Das Dokument wurde (was natürlich Teil des Plans war) absichtlich medial durchgestochen und gelangte an die Öffentlichkeit – was die Scheidung von SPD und FDP letztlich besiegelte.
Fliehkräfte in der Regierung weiter verstärken
Genau an dieser Blaupause scheint sich Christian Lindner nun – teils bis hin zur verwendeten Wortwahl – ein Vorbild genommen zu haben: Mit seinem 18-seitigen Grundsatzpapier “Wirtschaftswende Deutschland: Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit” – das angeblich weder für die Öffentlichkeit noch die übrigen Ampelpartner bestimmt war, sich aber natürlich genau an diese richtet – will Lindner erkennbar die nicht länger zu ignorierenden Fliehkräfte in der Regierung weiter verstärken und seine bisherigen Partner zur Weißglut treiben – ganz so, als wolle er sie veranlassen, das überfällige Aus endlich zu vollziehen, das seine eigene Partei konsequenterweise schon viele Male hätte exekutieren müssen (worauf es allerdings auch nicht mehr ankam, da diese Koalition vom ersten Tag an einen Hochverrat an liberalen Ideen, an der eigenen Wählerklientel und der vormaligen eigenen Devise “besser nicht regieren als schlecht regieren” darstellte). Anlässe, dieses Horrorkabinett aufzukündigen, hätten sich selbstverständlich schon massenhaft geboten – vom Versuch der Durchsetzung einer Impfpflicht über den Atomausstieg und das Selbstbestimmungsgesetz bis hin zum grünen Energiedebakel.
Die Handlungsunfähigkeit dieser Regierung wird aktuell durch den “Wirtschaftsgipfel“ von Olaf Scholz mit seinem wortgewaltigen abschließenden Lippenbekenntnis eines “Pakts für die Industrie”so fulminant demonstriert wie nie. Das Spitzentreffen im Kanzleramt fand statt ohne Beteiligung Lindners und vor allem auch des grünen Vizekanzlers und Wirtschaftsministers Habeck – und damit des Hauptverantwortlichen für den Untergang der automobilen deutschen Schlüsselindustrie: Just in diesen Zwist platzt nun Lindner nun mit seinem Positionspapier, das nicht weniger als einen 180-Grad-Kurswechsel just jener Wirtschaftspolitik fordert, die er selbst als Finanzminister seit Ende 2021 mitverbrochen hat. Nun beschwört Lindner also eine „Wirtschaftswende“ (Achtung, Parallele zu ’82!) mit einer “teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“. Zentraler Aspekt seines Papiers ist die strikte Ablehnung jeglicher Lockerung der Schuldenbremse sowie jeglicher als “Sondervermögen” verbrämter riesiger Schuldenprogramme. „Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik, die quantitativ bedeutsam und grundsätzlicher Art ist“, so Lindner in seinem Schrieb.
Auf totalem Konfrontationskurs
Auch in anderen Punkten geht Lindner auf totale Konfrontation zu seinen Partnern – denn das Schreiben enthält “Forderungen, die in der Koalition bislang als unverhandelbar galten”, so “Focus”. So fordert Lindner “substantielle Änderungen” an laufenden Gesetzesvorhaben, um Industrie und Mittelstand zu entlasten. Vor allem aber ist er für die zeitnahe, vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Dieser leidige “Soli” soll demnach in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden, und dann 2027 ersatzlos wegzufallen. Außerdem fordert Lindner eine Senkung der Körperschaftssteuer und will im Sinne eines “beschleunigten Bürokratieabbaus” ein „sofortiges Moratorium” zum Stopp aller Regulierungen für die nächsten drei Jahre vorlegen. Dies betrifft vor allem laufende Gesetzesvorhaben von SPD und Grünen, die “entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen.” Im Visier hat Lindner dabei vor allem die von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil ausgeheckten Novellen des Tariftreuegesetzes, für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigtendatengesetz und der (natürlich arbeitgeberfinanzierten) “Familienstartzeit”. All diese sozialdemokratischen Bürokratiemonstren passten, so Lindner, “in der aktuell diskutierten Form nicht zu den Herausforderungen des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds.“ Damit hat der Blitzmerker zwar recht – doch der wahre Skandal liegt ja darin, dass er und niemand sonst diese Politik seit drei Jahren erst möglich gemacht hat.
Lindners Grundsatzbrief blieb, planmäßig, natürlich nicht geheim – sondern wurde “zufällig” zuerst an den “Stern“ durchgestochen, von wo aus er das erwartete Echo in Medien und beiden Koalitionspartnern fand, denn die Reaktionen auf Lindners detonierte Bombe folgten prompt: Die SPD keift von “neoliberaler Phrasendrescherei“, und Noch-Grünen-Chef Omid Nouripour ätzt, Änderungsvorschläge seien zwar wichtig, aber sie müssten “der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“ Das Papier sei “eine Nebelkerze”, so der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. Der SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz beklagt, Lindner breche “einen öffentlichen, unabgestimmten Überbietungswettbewerb an großteils nicht finanzierten Wohltaten“ vom Zaun, und sein Fraktionskollege Martin Rosemann lamentiert, man brauche ganz sicher “keine Opposition in der Regierung“. Einzig der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch mahnt, halbwegs versöhnlich, zur ”Konstruktivität”, wie “dts” berichtet.
Überfällige Selbstopferung oder “nach uns die Sintflut”?
Zumindest diesbezüglich ging Lindner Kalkül also auf, dass die Gräben innerhalb der Ampel größer und womöglich unüberwindbar geworden sind – und eine Trennung nur noch eine Frage von Tagen, wenn nicht Stunden ist. Was jedoch, allen Hinweisen und augenfälligen Parallelen zu 1982 zum Trotz, doch dagegen spricht: Bisher hat ihr eigener Opportunismus und Egoismus zum maximalen Schaden Deutschlands die FDP-Minister noch immer in die Koalitionsdisziplin zurückgezwungen. FDP-Täuschkörper wie Zwecknörgler Wolfgang Kubicki mit seinem ewigen Empörungsrollenspiel markierten so etwas wie das schlechte Gewissen der Partei und artikulierten zwar das Richtige – aber bloß, um am Ende dann doch wieder genau gegenteilig zu handeln.
Gut möglich, dass jetzt auch Lindner so agiert und am Ende lieber doch noch bis zum bitteren Ende mitnimmt, was immer geht, – nach dem Motto “nach uns die Sintflut” –, ehe dann im September 2025 das Unvermeidliche an der Wahlurne folgen und sich das Schicksal dieser rückgratlosen Splitterpartei erfüllen wird. Gerade so, wie es heute schon in drei aufeinanderfolgenden Ostwahlen auf Landesebene besiegelt wurde. Denn das ist wohl der entscheidende Unterschied zur Kohl-Wende 1982: Neuwahlen überlebt diese Partei diesmal nicht. (DM)