Eine gerade gewachsene, zwanzig Meter hohe Tanne wird im Wald gefällt. Die Äste werden entfernt, die Rinde sorgfältig abgeschält. Nur die Spitze bleibt stehen, ein kleines Tannenbäumchen. Es wird mit bunten Schleifen geschmückt, wie es hier seit Menschengedenken üblich ist.
Am Dorfplatz stehen zehn hölzerne Tafeln bereit, bemalt mit den Zunftzeichen der ortsansässigen Handwerker: der Bäcker, der Schmied, die Zimmerei, der Malermeister. Der Stamm wird dort feierlich abgelegt. Die Zunftzeichen werden angeschraubt und schon bald beginnt das Aufrichten. Fünfzehn kräftige Männer stehen bereit, mit langen Holzstangen, den sogenannten Schwalben. Zentimeter für Zentimeter stemmen sie den Baum auf, mit Zurufen, Handzeichen, voller Konzentration. Die Kinder staunen, die Älteren schauen prüfend hin.
Das ist Kultur
Wenn der Maibaum steht, beginnt die Blaskapelle zu spielen. Es gibt Bier vom Fass, Würstchen, Brezen. Man trifft sich. Man redet. Man kennt sich. Es ist keine Show für Touristen. Es ist nicht inszeniert. Es ist einfach da, wie jedes Jahr.
Kein Gesetz verlangt, dass ein Maibaum aufgestellt wird. Kein Schulplan schreibt es vor. Keine Behörde erinnert daran. Und doch ist es eines der verlässlichsten Ereignisse im Dorfleben. Das ist Kultur.
Man könnte sagen: Es ist einfach Brauch. Und genau darin liegt seine Bedeutung. Denn wer am 1. Mai auf dem Platz steht, spürt es, hier wird nichts neu erfunden. Hier wird weitergegeben, von Generation zu Generation. Es ist keine Erinnerung an eine vergangene Zeit, sondern gelebte Gegenwart. Und jeder, der da ist, ob alt oder jung, wird Teil davon. Mit 80 noch wird er sagen, ich war damals dabei.
Halt in der Welt
Ein Kind, dem der Vater die Hand hält und das Maibaumaufstellen mit großen Augen betrachtet, wird später vielleicht selbst einmal helfen, ihn aufzustellen. Und ganz ohne es zu merken, wächst es in eine Welt hinein, die ihm Halt gibt. Eine Welt, die nicht erklärt werden muss, weil sie erlebt wird.
Der Dichter Julius Wolff hat das, was hier geschieht, in wenigen Versen festgehalten:
Besseres kann kein Volk vererben,
als der eigenen Väter Brauch.
Wenn des Volkes Bräuche sterben,
stirbt des Volkes Seele auch.
Der Maibaum steht. Die Seele lebt.