Nachdem die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer gestorben ist, werden möglicherweise die Stimmen der Mahnung und Erinnerung abseits des offiziellen Gedenkens zum Ende des Zweiten Weltkriegs seltener und leiser. Gleichsam dürfte auch künftig dafür gesorgt werden, dass das kollektive Schuldnarrativ stärker denn je in der Mitte unserer Gesellschaft verankert bleibt. Wenngleich es sicher nicht dafür taugt, vor diesem altbekannten „Nie wieder“ zu warnen, von dem wir aktuell kaum sicher sein können, ob es sich vielleicht allein dadurch relativiert, nehmen die Hetzjagden, Ausgrenzung und Verfolgung von Wählern und Unterstützer der AfD auf Grundlage der Demagogie unseres Verfassungsschutzes doch mit seltener Brachialität zu.
Ein ständiger Verweis auf die Historie macht die Wahrscheinlichkeit somit nicht geringer, dass sich manch eine Agitation neu auflegt. Das durch selbsternannte Gute massierte Beharren auf der Geschichte taugt in erster Linie dazu, Deutschland unter die Fuchtel von Moral und dem erhobenen Zeigefinger zu nehmen, wenn es darum geht, uns eine Pflicht zu Willkommenskultur und Weltoffenheit diktieren zu können. Ohnehin mutet es weiterhin einigermaßen befremdlich an, dass in diesen ersten Wochen des Monats Mai allein von einer „Befreiung“ die Rede ist. Denn auch wenn man natürlich froh sein konnte, dass die Ideologie der Nationalsozialisten endlich unterbunden war, so würden unsere Großeltern nicht konform gehen mit einer überaus einseitigen Betrachtung dessen, was die nun mehr bejubelten Alliierten um 1945 auf und über unserem Boden anrichteten.
Erschreckende Detailliertheit
Man schmälert die bestialische Grausamkeit der Massenvernichtung von Minderheiten nicht dadurch, dass man gleichzeitig darauf hinweist, welches Leid Bürger dieser Republik erfahren mussten, die selbst nicht mitgemacht hatten bei der Maschinerie des Tötens von Adolf Hitler. Ich habe meine vor 11 Jahren verstorbene Oma noch bestens vor Augen, die mir bis zum Schluss immer wieder davon berichtete, wie sie nach dem Bombenangriff auf Dresden verschüttet war, mit vermeintlichem Phosphor in den Augen aus den Trümmern kroch, während Stunden über mehr als 100 Leichen stieg, ehe sie irgendwann gerettet wurde. Und kaum war das Dritte Reich vorbei, vergewaltigten sie russische Soldaten mindestens vier Mal. All das konnte sie in einer erschreckenden Detailliertheit reflektieren und nur durch das Erzählen irgendwie verarbeiten.
Später dann wurde sie eingekesselt von der nächsten Diktatur. Zunächst schaffte sie es, mit Hilfe von Beziehungen zu Verwandten im Westen meine Mutter über den Flughafen in Berlin Richtung Westen zu bringen, ehe ihr selbst, in einem Kartoffelsack getarnt, per Güterwaggon die Flucht aus der DDR gelang. Sie lastete all das niemandem an, trotzdem sie sich wenig Vorwürfe machen konnte, hatte sie unter den Faschisten noch mehreren Juden Unterschlupf gewährt – und empfand sich selbst im Widerstand zu den Totalitaristen um Honecker und Mielke.
Abstufung der Unmenschlichkeit
Und auch mein Opa, der sowohl in der Sowjetunion wie an der französischen Front gegen seine Ideale und Mentalität kämpfen musste, weil er nie den Sinn von Waffen und Gewalt verstand, haderte nicht mit dem, was er an Verletzung davontrug, als er an Beinen lädiert aus der Gefangenschaft heimkehre.
Beide leugneten also keinesfalls, welches Unrecht die hiesige Bevölkerung durch manch ein Wegschauen und Nichtstun mitverursacht hatte. Aber wie spöttisch und höhnisch ist es in diesen Tagen, wenn gerade aus den Reihen von Antifa und Linksextremisten die Schicksale unserer Vorfahren belächelt oder verteidigt werden, weil sie auf deren eigenen Mist gewachsen sein sollen? Ein Blick auf das Früher kann nicht einseitig ausfallen, weil wir doch längst darüber hinweg sein sollten, nach dem biblischen Rachegedanken zu argumentieren. Ein Gemetzel bedingt nicht das andere, Barbarei darf nicht mit Rohheit vergolten werden. Wer sich dieser Formel entledigt, stuft Unmenschlichkeit ab. Und macht Genugtuung eben doch zu einer Tugend, obwohl doch schon Mahatma Gandhi sagte: „Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein“.