Deutschland hält fest an einem über 60 Jahre alten Abkommen aus der Mottenkiste – trotz völlig veränderter Rahmenbedingungen / von Nicole Höchst
Ich beginne direkt mal mit den Zahlen, die uns das Bundesministerium für Gesundheit dank der Anfrage der SPD-Bundestagsabgeordneten Sabine Dittmar liefert – denn diese zwingen uns, genauer hinzusehen: Ist das Deutsch-Türkische Sozialversicherungsabkommen aus dem Jahr 1964, als die Welt noch in Schwarz-Weiß lebte und die Beatles die Charts dominierten, heute, 61 Jahre später, überhaupt noch zeitgemäß? Die Summen, die zwischen 2014 und 2022 in Türkischer Lira (TRY) an anspruchsberechtigte Familien in der Türkei geflossen sind – von 23 bis über 40 Millionen TRY –, werfen nicht nur pikante Fragen zu den Kosten auf, sondern auch zur Aktualität dieses Systems. Um die Dimensionen greifbarer zu machen, habe ich die Beträge in Euro umgerechnet (basierend auf den durchschnittlichen Wechselkursen des jeweiligen Jahres):
Hinweis: Die Euro-Beträge sind Näherungswerte, basierend auf historischen Wechselkursen. Die tatsächlichen Kosten können je nach Abrechnung leicht variieren.
Betrachten wir zunächst die zeitliche Einordnung und damalige Aktualität. Das Deutsch-Türkische Sozialversicherungsabkommen wurde in einer Zeit geschlossen, als Deutschland Arbeitskräfte brauchte und die Türkei sie lieferte. Damals ein genialer Schachzug: Vieles wurde detailliert und auskömmlich geregelt, die türkischen Arbeitskräfte sollten mit Rundumversorgung angeworben werden – und anschließend belohnt und belobigt wieder heimkehren. Doch die Welt hat sich seit dem Abkommen verändert. Grundlegend.
Die Türkische Lira, in der die Familienpauschalen abgerechnet werden, ist ein Spielball von Inflation und Währungskrisen geworden. Die Beträge in Euro zeigen es deutlich: Während die Summen in Lira steigen, sinkt ihr realer Wert in Euro drastisch – von über 9 Millionen Euro 2014 auf knapp 2,4 Millionen 2022. Wie soll ein Abkommen, das auf starren Pauschalen basiert, mit solchen Schwankungen umgehen? Und warum fehlen eigentlich die Abrechnungen für 2023 und 2024? Läuft die Verwaltung hier auf Sicht – oder ist sie schlicht überfordert?
Wo bleibt die Transparenz?
Nun zur Frage, wie zeitgemäß dieses Abkommen im Jahr 2025 noch ist. Die Idee, Familien in der Türkei zu unterstützen, mag solidarisch klingen; aber ist sie noch fair? Und: Wessen Familien sind da eigentlich noch in der Türkei? Viele Arbeiter haben ihre Familien nachgeholt, ihre Nachkommen haben inzwischen zumeist die deutsche Staatsbürgerschaft.
In Deutschland ächzen Krankenkassen unter steigenden Beiträgen, während Bürger sich über Wartezeiten beim Facharzt aufregen. Gleichzeitig fließen Millionen – wenn auch im Euro-Gegenwert sinkend – in ein System, das auf Strukturen von vor 60 Jahren basiert. Da darf, ja muss man schonmal die Sinnfrage stellen, finde ich. Und: Wo bleibt die Transparenz? Wie viele Personen profitieren genau? Wer sind diese Personen? Und decken die Pauschalen überhaupt den tatsächlichen Bedarf? Zahlen wir hier zurecht und gerecht – oder füttern wir ein verstaubtes Relikt durch?
Kindergeld für die Türkei: Was die Bundesregierung nicht weiß – oder nicht wissen will
Es ist – nicht nur angesichts knapper Kassen – allerhöchste Zeit, dieses Abkommen aus der Mottenkiste zu holen und auf den Prüfstand zu stellen. Brauchen wir hie eine Reform, die Währungsschwankungen berücksichtigt? Müssen die Pauschalen an aktuelle Lebenshaltungskosten angepasst werden? Oder wäre es nicht sogar an der Zeit, das Abkommen komplett neu zu verhandeln, um es an die Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen? Eines ist sicher: Weiterwurschteln ist keine Option; wir brauchen Klarheit – und das nicht erst, wenn die Abrechnungen für 2023 und 2024 dann vielleicht doch noch irgendwann auftauchen.
Aber schauen wir auch auf weitere Bestandteile des Deutsch-Türkischen Sozialversicherungsabkommens. Die Frage meines AfD-Bundestagskollegen René Springer an die Bundesregierung klingt nach einer einfachen Rechenaufgabe: Wie viel Kindergeld floss zwischen 2014 und 2024 aufgrund des Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens von 1964 an Familien in der Türkei? Doch die Antwort der Regierung ist ein Musterbeispiel für bürokratisches Ausweichen und politische Nebelkerzen. Was hier offenbart wird, ist nicht nur ein Mangel an Transparenz, sondern ein alarmierendes Desinteresse an der Nachvollziehbarkeit unserer Steuergelder.
Ahnungslosigkeit über tatsächliche Geldflüsse
Denn die Bundesregierung verweist lapidar auf eine frühere Antwort und erklärt, Kindergeld werde „grundsätzlich“ nur innerhalb der EU oder des EWR gezahlt – außer in Ausnahmefällen, wie sie das Abkommen mit der Türkei vorsieht. Für Kinder in der Türkei gibt es demnach „Abkommenskindergeld“ zu herabgesetzten Sätzen: 5,11 Euro für das erste Kind, 12,78 Euro für das zweite, bis hin zu 35,79 Euro für jedes weitere Kind. Klingt nach Peanuts? Mag sein. Doch wie viel Steuergeld in den letzten zehn Jahren tatsächlich in die Türkei floss, bleibt im Dunkeln. Warum? Weil die Bundesregierung – halten Sie sich fest – „keine gesonderten statistischen Daten“ dazu hat.
Lassen Sie das bitte einfach mal sacken: Ein Staat, der jeden Bürger bis auf den letzten Cent überwacht, der Steuererklärungen mit Argusaugen prüft, weiß angeblich nicht, wie viel Geld aufgrund eines 60 Jahre alten Abkommens ins Ausland überwiesen wird. Ist das Inkompetenz oder Absicht? Die Bundesagentur für Arbeit führt zwar Bestandsstatistiken, doch eine spezifische Aufschlüsselung für die Türkei? Fehlanzeige. Stattdessen wird auf eine allgemeine Webseite verwiesen, wo der Bürger selbst suchen darf. Viel Erfolg dabei! Zumal der angegebene Link nicht mehr funktioniert.
Wegschauen statt Verantwortung übernehmen
Was die Bundesregierung hier offenlegt, ist ein systematisches Versagen – oder vielleicht eine bewusste Ignoranz. Es ist kein Geheimnis, dass das Deutsch-Türkische Sozialversicherungsabkommen aus einer anderen Zeit stammt, als Migration und Globalisierung noch andere Dimensionen hatten. Doch dass die Regierung nicht einmal in der Lage ist, die finanziellen Auswirkungen dieses Abkommens zu beziffern, wirft brisante Fragen auf. Will man die Zahlen nicht wissen, weil sie politisch unbequem wären? Fürchtet man, dass eine klare Antwort die Debatte über Leistungs export und soziale Gerechtigkeit neu entfachen könnte?
Die Bürger haben ein Recht zu erfahren, wofür ihre Steuergelder verwendet werden – bis auf den letzten Cent! Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung diese Transparenz verweigert. Anstatt konkrete Zahlen zu liefern, versteckt sie sich hinter vagen Verweisen und Ausreden. Das ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Steuerzahler, sondern auch ein Beweis für die Arroganz einer Politik, die lieber wegschaut, als Verantwortung zu übernehmen. Es ist höchste Zeit, dass wir solche Ausflüchte nicht länger hinnehmen. Wenn die Regierung keine Daten hat, dann soll sie gefälligst welche erheben. Und wenn sie nicht will, dann müssen wir uns fragen: Cui bono? Was wird hier verschleiert? Die Wahrheit verdient mehr als ein Schulterzucken.
Ein Relikt – oder womöglich ein Modell?
Aber das Probem mit dem Sozialversicherungsabkommen geht ja noch weiter. Schauen wir auf die Zahlen und Fakten aus meiner jüngsten schriftlichen Anfrage zu diesem Thema (Arbeitsnummer 283 von Februar 2025), um Klarheit zu schaffen: Das Abkommen ermöglicht die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, damit Rentenansprüche erfüllt werden können. Renten werden vollständig in den jeweiligen Vertragsstaaten gezahlt – eine noble Geste.Kostenübersicht und Transparenz? Fehlanzeige! Nun liefern uns die neuen Zahlen einen ersten Einblick:
Es gibt also einen glasklaren Trend: Die Zahl der Renten und die damit verbundenen Kosten steigen stetig an – von 140 Millionen Euro im Jahr 2014 auf über 242 Millionen Euro im Jahr 2023. Das ist ein Plus von über 100 Millionen Euro in nur neun Jahren! Und bitte keine falschen Schlüsse ziehen: Das ist durchaus ein erheblicher Betrag, der von türkischen Gastarbeitern in eigener Sache erwirtschaftet wurde; im Klartext: Die türkischen Gastarbeiter haben ihre Rentenbeiträge im Rahmen des Abkommens durch ihre Arbeit in Deutschland selbst erwirtschaftet. Dieses sorgt hier nur dafür, dass diese Beiträge entweder für eine deutsche Rente, eine kombinierte Rente mit türkischen Beitragszeiten oder eine Rückerstattung genutzt werden können.
Brisant ist allerdings die Krankenversicherung: Monatliche Pauschalen in türkischer Lira sollen Verwaltungsaufwand sparen – schön und gut; doch warum können in der Türkei sogar Eltern von Versicherten nach wie vor mitversichert werden, wenn sie kein Einkommen haben? Das ist ein Privileg, das hierzulande für Familien nicht gilt. Verdrängt wird die ganze Zeit, dass die Türkei seit 2006 ein einheitliches Sozialversicherungssystem unter der Verwaltung der Sosyal Güvenlik Kurumu (SGK) vorzuweisen hat, das Krankheit, Mutterschaft, Alter, Invalidität, Tod, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten abdeckt. Wieso wird diese Entwicklung ignoriert? Und während die elektronische Formularübermittlung seit Mai 2023 einen Fortschritt darstellt, bleibt die Kernfrage: Warum traut sich keine Regierung an das Thema dran?
Es braucht einen fairen Deal!
Deutschland muss endlich den Finger in diese offene Wunde legen. Das Sozialversicherungsabkommen mag einst ein Symbol der Solidarität gewesen sein, doch heute wirkt es wie ein Einbahnstraßen-Modell, eine gut eingefahrene Trasse zum Ausleiten deutschen Steuergeldes. Die steigenden Kosten belasten spürbar unsere Systeme. Und obwohl mediale und parlamentarische Debatten vor allem die Krankenversicherungskosten für in der Türkei lebende Familienangehörige anprangern, winkt die Bundesregierung ab: Angeblich sei keine Neuverhandlung nötig. Ich sage hingegen: Ein Schulterzucken reicht da nicht! Wir brauchen Transparenz, wir brauchen Kontrolle, wir brauchen einen fairen Deal!
Das Abkommen muss endlich dem 21. Jahrhundert gerecht werden! Deutsche und Türken in Deutschland haben hierbei ein gemeinsames Interesse: Sie wollen wissen, für wen oder was ihr hart verdientes Steuergeld ausgegeben wird, und haben einen Anspruch darauf. Die Türken, die mit Inkrafttreten des Abkommens zum Arbeiten nach Deutschland gekommen sind, haben – sofern sie noch leben – längst ihre wohlverdiente Rente erreicht.
Völlig andere Voraussetzungen
Die folgenden Generationen, die zu einem Großteil hier in Deutschland geboren sind, haben jedoch ganz andere Voraussetzungen: Sie besitzen oft die deutsche Staatsbürgerschaft und sehen sich auch oft als Deutsche. Warum sollten diese Menschen ein Abkommen gutheißen, das sie steuerlich und in ihrem Geldbeutel belastet, von dem sie aber selbst nichts haben? Auch die, die in der Zwischenzeit zum Arbeiten gekommen sind und noch kommen, finden sowohl in der Türkei als auch in Deutschland heute völlig andere Voraussetzungen vor.
Was also folgt daraus? Zumindest dies: Wir alle haben ein gemeinsames Interesse daran, dass Verträge, die aus der Zeit gefallen sind, auf Tauglichkeit, Aktualität und Wirksamkeit überprüft werden! Das müsste für eine seriöse Politik eigentlich selbstverständlich sein. Und wir wollen Transparenz, damit Vertrauen wieder wachsen kann.
Zur Person:
Nicole Höchst, Jahrgang 1970, ist AfD-Bundestagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz. Sie trat 2015 in die AfD ein und ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis 201 (Bad Kreuznach/Birkenfeld). Dort ist sie unter anderem als ordentliches Mitglied und Obfrau des Bildungsausschusses und als Sprecherin der AfD-Fraktion für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung tätig. Ferner ist sie stellvertretendes Mitglied in den Ausschüssen für Familie, Senioren und Jugend sowie für Digitales. Höchst ist desweiteren Delegierte des Deutschen Bundestages in den Europarat für die AfD-Fraktion und stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Desiderius-Erasmus-Stiftung.
Bis 2012 unterrichtete sie als Studienrätin am Staatlichen Speyer-Kolleg, anschließend war sie bis Oktober 2017 Referentin am Pädagogischen Landesinstitut (vormals IFB). Höchst war 2015 Mitglied der AfD-Bundesprogrammkommission und ist stellvertretende Vorsitzende des AfD-Kreisverbands Speyer. Sie ist katholisch, hat vier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Speyer, wo sie auch Stadträtin ist.
Auf jouwatch veröffentlicht Nicole Höchst alle 14 Tage die kritische Kolumne „Höchst brisant“ zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. Der erste Jahrgang dieser Kolumnen ist auch in Buchform erschienen. Unter demselben Titel veröffentlicht sie in unregelmäßigen Abständen Videobeiträge auf ihrem YouTube-Kanal.