Putin (Bild: shutterstock.com/Frederic Legrand - COMEO)
Putin (Bild: shutterstock.com/Frederic Legrand - COMEO)

Putins Rede zur Annexion der Ostukraine (1/2)

Es ist geschehen: Die Oblaste Donezk, Lugansk, Cherson und Saporischschja sind nun Bestandteil der Russischen Föderation.

Ein Beitrag von Martin Lichtmesz bei Sezession

Jeder Angriff auf diese Gebiete wird nun von Russland als Angriff auf sein eigenes Territorium gewertet. Die Ukraine ist geographisch amputiert und wird selbst im Falle eines “Sieges” oder einer Zurückeroberung der separatistischen Teile erhebliche Schwierigkeiten haben, diese wieder in den Nachkriegs-Nationalstaat zu integrieren. Hier gibt es wohl nichts mehr zu kitten, die Gräben sind gezogen und mit Blut gefüllt.

Im Westen werden die Abstimmungen als “Scheinreferenden” und bloßes Propagandatheater entwertet. Die außerordentlich hohen Zustimmungsraten lassen Zweifel aufkommen, ob die Ergebnisse nicht etwas “aufgemotzt” wurden, wie es bei solchen Vorgängen historisch durchaus üblich ist. Allerdings kann man mit Sicherheit davon ausgehen, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung dieser Gebiete, für die der Krieg schon 2014 begonnen hat, tatsächlich nicht mehr von Kiew aus regiert werden will.

Wladimir Putin hat die Annexion der Ostukraine zum Anlaß genommen, eine bemerkenswerte Rede zu halten, die von der deutschen Presse verhöhnt oder in die üblichen grellen Rahmungen eingepackt wird. Am inbrünstigsten schäumte die BILD-Zeitung: “Putins Rede voller Hass und Lügen”,  “Putin will den Westen spalten: Die Hassrede des Russen-Diktators”, “Gähn-Vortrag im Stile eines größenwahnsinnigen Geschichtslehrers”, “So viel Verzweiflung steckt in Putins Rede”, “ein wirrer Vortrag mit Lügen, Unterstellungen und Beschuldigungen” undsoweiter.

Bezeichnend ist, woran das transatlantische Revolverblatt besonderen Anstoß nahm, etwa dies:

Teilweise wurde es abstrus: „Der Westen lügt wie Goebbels“, sagte Putin an einer Stelle. An anderer behauptete er, Deutschland sei von den USA besetzt.

Wie kommt man auf sowas? Abstruser, absurder und abartiger geht es wohl gar nicht mehr! Am meisten haben sich die Kommentatoren der BILD jedoch über folgende Stelle der Rede empört:

Tiefpunkt: Den Alliierten warf er „pure Grausamkeit“ bei der Bombardierung Nazi-Deutschlands vor – ohne die Verantwortung für die Gräuel des Zweiten Weltkriegs zu erwähnen. (…)

Man darf annehmen, daß ein russischer Präsident ein bißchen eine Ahnung hat von “Gräueln des Zweiten Weltkriegs” durch “Nazi-Deutschland”, ein Thema, das er bei anderen Gelegenheiten auch reichlich bespielt.

Halten wird jedenfalls fest, daß es im Jahr 2022 immer noch deutsche Massenblätter gibt, die im Brustton der Empörung Kriegsverbrechen am deutschen Volk rechtfertigen.

Letzteres Zitat über den “Tiefpunkt” stammt von Ukraine-Korrespondent Paul Ronzheimer (Jahrgang 1985). Dieser schreibt auch:

Der gefährliche Kern von Putins Rede aber war ein anderer: Der russische Präsident erklärte die vier ukrainischen Regionen „für immer“ für russisch, forderte die ukrainische Armee auf, die Kämpfe einzustellen und zeigte sich gleichzeitig bereit, zu verhandeln.

Ich mußte den Satz zweimal lesen, weil ich ihn kaum glauben konnte. Der “gefährliche Kern” von Putins Rede ist also nach Ronzheimer, “daß er sich bereit zeigte, zu verhandeln”. Und warum ist das so “gefährlich”?  Die Antwort lautet:

Damit unternimmt Putin erneut den Versuch, den Westen maximal zu spalten!

Offenbar, indem er damit einige Länder des Westens in Versuchung führt, aus der absoluten Kriegsfront, wie sie Washington wünscht, auszuscheren. Hier ist die originale Stelle aus Putins Rede:

Wir fordern das Kiewer Regime auf, sofort alle Kampfhandlungen und Feindseligkeiten einzustellen, den Krieg, den es 2014 entfesselte, zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dazu sind wir bereit, wie wir schon mehr als einmal gesagt haben. Aber die Entscheidung der Menschen in Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson steht nicht zur Debatte. Die Entscheidung ist gefallen, und Russland wird sie nicht betrügen.

Was wäre die Alternative zum “Verhandlungstisch”? Totaler Krieg, bis hin zur nuklearen Eskalation?

Das ist momentan der Tenor der Medien, nicht nur der BILD-Zeitung: Jeglicher Gedanke, mit Rußland zu verhandeln oder dessen Interessen in irgendeiner Weise anzuerkennen, wird blindlings und reflexartig als Defaitismus, Wehrkraftzersetzung, “Spaltungsversuch” und so weiter niedergebrüllt. Wie diese Leute immer von “Spaltung” reden, und annehmen, jeder, der im Westen lebt, wäre ihrer Meinung oder müßte sich mit ihnen in eine Reihe stellen!

Der Multimilliardär Elon Musk, der die digitale Infrastruktur der Ukraine mit seinem Starlink-Satelitensystem gestärkt hat, hatte neulich die Stirn, via Twitter (das er nun doch kaufen will) einen “Friedensplan” vorzuschlagen.

Der sah so aus:

  • Wiederholung der Wahlen in den annektierten Regionen unter Aufsicht der UN. Russland verlässt die Region, wenn dies der Wille des Volkes ist.
  • Die Krim bleibt formell bei Russland, so wie sie es seit 1783 (bis zu Chruschtschows Fehler) war.
  • Die Wasserversorgung der Krim wird sichergestellt.
  • Die Ukraine bleibt neutral.

Diesem Vorschlag fügte er eine Umfrage bei; 59% der Twitter-User, die sich daran beteiligten, stimmten für “Nein”. Auch Selenskyj zeigte sich nicht erfreut, ganz zu schweigen von Andrij Melnyk, dem unverschämtesten Pöbler seines Landes. Der Trend geht zur kompletten Rückeroberung der Ukraine, einschließlich der Krim, als einzig denkbare und erlaubte Option.

Musk versuchte es mit einer weiteren Umfrage:  “Soll der Wille der Menschen, die im Donbass und auf der Krim leben, darüber entscheiden, ob sie Teil Russlands oder der Ukraine sind?” Diesmal antworteten widersprüchlicherweise 59% mit “Ja”. Immerhin 40% scheinen nicht mehr viel vom “Selbstbestimmungsrecht der Völker” zu halten.

Letzteres hat Putin explizit ins Feld geführt, um die Abspaltung der Ostukraine und ihre Aufnahme in die Russische Föderation zu begründen. Dabei betonte er aber, daß er die Legitimation dieser Idee weniger aus der UNO-Charta ableitet, sondern aus der russischen Geschichte.

Es ist zweifellos ihr Recht, ein angeborenes Recht, das in Artikel 1 der Uno-Charta besiegelt ist, in dem der Grundsatz der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker direkt festgeschrieben ist.

Ich wiederhole, es ist ein angeborenes Recht der Völker. Es beruht auf unserer historischen Verbundenheit, und es ist dieses Recht, das Generationen unserer Vorgänger, die Russland seit Jahrhunderten aufgebaut und verteidigt haben, seit der Zeit der Alten Rus, zum Sieg geführt hat. (.…)

Aber es gibt nichts Stärkeres als die Entschlossenheit von Millionen von Menschen, die sich aufgrund ihrer Kultur, Religion, Traditionen und Sprache als Teil Russlands betrachten und deren Vorfahren jahrhundertelang in einem einzigen Land gelebt haben. Es gibt nichts Stärkeres als ihre Entschlossenheit, in ihre wahre historische Heimat zurückzukehren.

Das ist eine explizit nationalistische Argumentation, die sich konträr zum westlichen Menschheitsglobalismus stellt.

Hier nun also ein paar kommentierte Zitate aus Putins Rede, wobei ich die Übersetzung der Weltwoche nutze. Sie ist in der Tat alles andere als “wirr” oder langweilig.

Das Bemerkenswerte daran ist, daß Putin einen großen weltgeschichtlichen Bogen zeichnet, in dem der Krieg in der Ukraine eine epochale Zeitenwende markiert. Sie ist eine zornige Generalkritik des “Westens”, womit er im Wesentlichen das anglo-amerikanische Imperium und seine Vasallen meint.

Er beginnt mit einer Beschwörung der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, als Francis Fukuyama das vermeintliche “Ende der Geschichte” durch den Siegeszug der liberalen Demokratie verkündete – eine Periode, die in Rußland in sehr schlechter Erinnerung geblieben ist, da in ihr Korruption, Verbrechen und Armut vorherrschten, während an der Spitze des Staates ein schwacher, von den USA gesteuerter Präsident stand.

Unsere Landsleute, unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine, die Teil unseres geeinten Volkes sind, haben mit eigenen Augen gesehen, was die herrschende Klasse des sogenannten Westens für die Menschheit als Ganzes vorbereitet hat. (…)

Als die Sowjetunion zusammenbrach, beschloss der Westen, dass die Welt und wir und alle sich dauerhaft seinem Diktat unterwerfen sollten. 1991 dachte der Westen, Russland würde sich nach solchen Erschütterungen nie wieder erheben und von selbst in sich zusammenfallen. Das wäre auch fast passiert. Wir erinnern uns an die furchtbaren 1990er Jahre, an Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit. Aber Russland blieb aufrecht, wurde lebendig, wurde stärker und nahm seinen rechtmässigen Platz in der Welt ein.

Rußland ist in der Defensive gegen dieses übergriffige Imperium:

Sie werden so lange keine Ruhe geben, wie sie wissen, dass es ein so grosses Land mit einem so riesigen Territorium in der Welt gibt, mit natürlichen Reichtümern, Ressourcen und Menschen, die sich nicht nach den Wünschen anderer richten können und wollen. (…)

Diese Passage könnte genausogut von Noam Chomsky oder anderen linken und rechten Anti-Imps aus dem Westen stammen:

Der Westen ist bereit, jede Grenze zu überschreiten, um das neokoloniale System aufrechtzuerhalten, das es ihm erlaubt, von der Welt zu leben, sie dank der Vorherrschaft des Dollars und seiner Technologie auszuplündern, einen regelrechten Tribut von der Menschheit zu kassieren, ihre wichtigste Quelle unverdienten Wohlstands, die an den Hegemon gezahlte Miete, abzuschöpfen.

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