Herr Selenskyj und Herr Blinken am 8. September 2022 in Kiew - Foto: Imago

Erdingers Absacker: Herr Selenskyj in der Neuen Welt

Zum ersten Mal seit dem Start der Militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine hat Wolodymyr Selenskyj das Land für eine Reise verlassen. Zur Stunde weilt er in Washington. Es scheint wichtig zu sein. Eine Zoom-Konferenz kann dieses Mal nicht ausgereicht zu haben. Das Internet ist schließlich kein “SCIF”.

von Max Erdinger

 

Was ist ein “SCIF”? Ein SCIF ist ein Ort, ein Zimmer, eine Räumlichkeit, die dick in einen Bleimantel gepackt ist, um sie abhörsicher zu machen. In allen Regierungsgebäuden der Welt gibt es SCIFs. Im Weißen Haus sogar mehrere in verschiedenen Größen. Wolodmyr Selenskyj ist nicht einfach nach Washington gereist, sondern sehr wahrscheinlich in die “SCIFS” von Washington. Auf dem Weg dorthin setzte er aber erst noch einen Tweet ab.

Das Pfeifen im Walde

Selenskyi Tweet
Selenskyj-Tweet – Screenshot Twitter

Selenskyj positionierte sich schon einmal vor seiner Ankunft in den USA. Er zwitscherte: “Ich bin unterwegs in die Vereinigten Staaten, um die Widerstandsfähigkeit und die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine zu stärken. Im Speziellen werde der Präsident der USA und ich über die Kooperation zwischen der Ukraine und den USA diskutieren. Auch werde ich im Kongress eine Rede halten und eine Reihe bilateraler Treffen haben.

So stellt er sich das also vor, der ukranische Befehlsempfänger. Bilateral, Diskussion, Kooperation. Genauer: So hätte er gern, daß die Welt den Zweck seiner Reise begreifen soll. Es spricht nicht viel dafür, daß das realistisch sein könnte. Vor wenigen Tagen gab es nämlich ein sehr ausführliches Interview des “Economist” mit Selenskyj. Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt, daß die Lage eine ganz andere ist. Das Gespräch führte der “Economist” nämlich über weite Teile gar nicht mit Selenskyj, sondern mit dem ukrainischen Armeechef Walerij Saluschny. Selenskyj saß währenddessen aufmerksam dabei, was seinen obigen Tweet umso phantastischer erscheinen läßt.

Interview Economist Selenskyj
“The Economist” – Interview – Screenshot Economist

Nun ist es so, daß ein derartig tiefgehendes Interview wie das im “Economist” nicht einfach so zustande kommt. Da sind nicht nur eine Chefredaktion und der Interviewpartner involviert, sondern das wird ganz genau geplant. Das Interview soll eine bestimmte Wirkung in der Öffentlichkeit haben oder die Öffentlichkeit auf etwas vorbereiten. Das wird vorher politisch durchgekaut. Etwa unter dem Aspekt, wie der Öffentlichkeit ein neuer Sachverhalt möglichst schonend beigebracht werden kann, so daß die politisch Verantwortlichen glimpflich dabei wegkommen. Es war ein Interview für die westliche Öffentlichkeit. Die eigentliche Botschaft war zwischen den Zeilen versteckt. Die Botschaft: Der Krieg ist für den kollektiven Westen verloren. Es gibt nichts mehr zu gewinnen.

Der ukrainische Armeechef Waluschnj tönte zwar, wie er den Russen heimleuchten würde, aber das “würde” war der eigentliche Punkt. Wenn die Ukraine das Patriot-Raketensystem hätte, das nun in einer veralteten Version geliefert werden soll -, und wenn die Ukraine 300 Panzer und 500 weitere gepanzerte Fahrzeuge geliefert bekäme -und-und-und, dann “würde” Waluschnj den Russen heimleuchten. Das ist wie mit der Armee Wenck. Wenn es die noch gegeben hätte, dann hätte Hitler Ende April ’45 ganz bestimmt die Einnahme der Stadt Berlin verhindern können. Wenn die deutschen “Wunderwaffen” rechtzeitig in großer Zahl fertig geworden wären, dann “würde” heute …

Fakt ist: Um jenes radargestützte Patriot-System bedienen zu können, das sich seit 30 Jahren nirgendwo bewährt hatte, braucht es eine mehrere Dutzend Spezialisten starke Bedienmannschaft. Die müsste erst einmal ausgebildet werden. Das dauert mindestens drei, wahrscheinlich aber eher fünf Monate. Dann ist das Patriot-System ein stationäres System, das nicht einfach so durchs Gelände bewegt und von einem zum anderen Standort verschoben werden kann. Das macht es verwundbar für Angriffe aus der Luft. Bis die Ukraine also über das System einerseits und die ausgebildeten Mannschaften andererseits verfügt, gehen weitere Monate ins Land. Gut möglich ist, daß der Krieg bis dahin auch offiziell vorbei ist. Für den Westen – konventionell – verloren ist er bereits heute. Eine russische Großoffensive steht unmittelbar bevor. Die 300 Panzer und 500 gepanzerten Fahrzeuge sind ebenfalls noch nicht geliefert worden – und die Russen sind weniger Willens als je zuvor, einer solchen Lieferung tatenlos zuzuschauen. Vielmehr gab es dieser Tage ein Treffen von Wladimir Putin mit dem Regierungschef der Volksrepublik Donezk, bei dem er sich die Folgen des pausenlosen ukrainischen Beschusses der Stadt Donezk in drastischen Worten erläutern ließ und Abhilfe versprach.

Was der ukrainische Armeechef Waluschnj im “Economist” erzählte, läßt sich also realiter auf einen einzigen Konjunktiv reduzieren: “würde”. Er hat weder das Material noch die Truppen zur Verfügung, um den Russen heimzuleuchten. Hätte er, dann würde er. Alle Jubelmeldungen über den US-amerikanischen Beschluß, das Patriot-Reaktensystem an die UKraine zu liefern, sind ohne Substanz, da sie den Zeitfaktor außer acht gelassen haben. Zudem meutern die westeuropäischen NATO-Militärs allmählich, weil sie nichts mehr haben, das an die Ukraine geliefert werden könnte, ohne die Verteidungsfähigkeit der eigenen Ländern völlig gar zu opfern. Im Übrigen bröselt überhaupt der Zusammenhalt zwischen den USA und den europäischen NATO-Partnern – und zwar mehr aus wirtschaftlichen als aus militärischen Gründen. Der US-amerikanische “Inflation Reduction Act” ist im Grunde nur ein Euphemismus für “Handelskrieg gegen die EU”.

Der Krieg ist vorbei

Der Ex-UN-Waffeninspekteur und Ex-Marine-Intelligence Officer Scott Ritter fasst es so zusammen: Der Krieg ist vorbei, nur gestorben wird weiterhin. Es braucht nicht viel Phantasie, was nun der Gegenstand jener Gespräche sein wird, zu welchen Selenskyj nach Washington zitiert wurde. Wenn die Ukraine als Nation überhaupt noch eine Zukunft haben soll, dann ist ein Zugang zum Schwarzen Meer von zentraler Bedeutung. Die Hafenstadt Odessa steht daher im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das ist der einzige größere Hafen, über den die Ukraine derzeit noch verfügt. Mit Odessa steht und fällt die wirtschaftliche Zukunft der Ukraine. Bei einem Friedensschluß jetzt wäre dieser Schwarzmeer-Zugang eventuell noch zu retten. Der Frieden müsste schnell geschlossen werden, weil sonst die russische Großoffensive losgeht – und wenn die erst einmal läuft, dann läuft sie. Russland hat keine Eile mit Friedensgesprächen. Das heißt im Klartext: Es müsste sehr wohl das geben, was es nach Worten der feministischen Außenministrierenden von Deutschland auf gar keinen Fall geben darf, eine  russischen “Diktatfrieden” nämlich. Das ukrainische Getöse von einer Rückeroberung der Krim ist ohnehin vollkommen realitätsfern.

Es wird bei den “bilateralen Gesprächen” in Washington also darum gehen, einen Weg zu finden, wie sich der Westen aus diesem Krieg verabschieden kann, ohne beim westlichen “Publikum” einen erneuten, riesigen Gesichtsverlust zu erleiden. Das gilt ebenso für die Westmedien, die zuletzt noch versucht hatten, die Mär von einem bevorstehenden russischen Angriff auf Moldawien in die Welt zu setzen. Russische Truppen befänden sich bereits in Transnistrien, hieß es. Es wird heute in Washington auch um die Zukunft Selenskyjs persönlich gehen und man müsste sich nicht wundern, wenn Selenskyj als Präsident der Ukraine in allernächster Zukunft Geschichte sein wird. Denkbar ist, daß der von Freund & Feind seines militärischen Durchblicks wegen geachtete Walerj Waluschnj die Verhandlungen mit Russland führen wird. Ein Friedensschluß zu russischen Bedingungen ist unausweichlich geworden. Die einzige Alternative wäre eine direkte Konfronation der NATO mit Russland, mithin also eine möglicherweise finale Eskalation des Krieges, bei der es dann auch mit dem Frieden in Westeuropa vorbei wäre.

 

 

 

 

 

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