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Deutschland und die andere Geschichte

Was ist mit den Deutschen los? Seit Jahrhunderten verfallen sie immer erneut in verschiedene, politische oder religiöse Lager und bekämpfen sich gegenseitig. Heute mag das große historische Trauma der Nazi-Zeit nachwirken, denn diese Epoche wirkt wie ein goldener Stern, der sich in ein Grab verwandelt und alles Licht und Positive in seiner Dunkelheit begräbt. Das verstellt den Blick darauf, dass es noch eine andere Geschichte gibt, eine, die in den Schulen kaum gelehrt wird.

Jede politische Kultur braucht eine Vorgeschichte, die sie stützt und legitimiert, damit die eigene Gesellschaft sie verstehen kann. Wer heute die Wertschätzung deutscher Kultur erfahren will, muss in Deutschland Immigranten befragen- oder in die Ferne schweifen. Dort hat ein Mut zum Kultur-Enthusiasmus überlebt, der uns zu Hause verloren gegangen zu sein scheint.

In China an der Renmin-Universität sangen Hunderte von Studenten die „Ode an die Freude” in Beethovens Vertonung zum Todestag von Schiller. Friedrich von Schiller (1759-1805) gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter. Aufgewachsen in Marbach am Neckar distanzierte er sich früh vom christlichen Glauben und beschäftigte sich mit religionsphilosophischen Fragen. Weltweit diskutiert man seine Thesen, selbst in abendlichen Talkshows im Ausland. Findet man diese in Deutschland selbst?

Zur positiven Identifikation mit der eigenen Kultur gehört mehr als die ständige Ermahnung des Bösen, selbst wenn der Zweite Weltkrieg wirklich mehr als schrecklich war und nie vergessen werden darf. Aber die alleinige Fixierung darauf, macht neurotisch, isoliert und verlängert den eingeschlagenen Weg, den es übrigens in der neueren Geschichte schon lange gibt und es stellt sich die Frage nach dem Warum.

Teile und herrsche

Herrsche und teile hat Deutschland im Griff. Hervorragend ließ sich das in der Coronazeit beobachten. Es gab nur richtig und falsch. Die Guten und die Schlechten. Das aber war in der DDR nicht anders, und dieses Prinzip galt auch im Dritten Reich. Die „Adolf – Treuen” und die Bösen, die man als guter Nachbar gerne denunziert.

Gibt es ein deutsches Gen, welches Menschen in kürzester Zeit zu Höchstleistungen befähigt, gleichzeitig aber eine gewisse Naivität aufweist, die dafür sorgt, dass die Menschen sich immer in zwei Richtungen dividieren lassen? Es gab in der neueren deutschen Geschichte nur wenige kurze Momente, in der Spaltung und Misstrauen überwunden wurde und die auch immer zu den erfolgreichsten Epochen Deutschlands zählt.

Ein kurzer Rückblick:

Der Dreißigjährige Krieg in Deutschland (1618–48) war eine der schweren Katastrophen des Landes. In einigen Gegenden wurden durch den Krieg zwei Drittel der Bevölkerung ausgelöscht. Am Ende lag das Land seelisch schwer traumatisiert in Trümmern. Er wurde um zwei Prinzipien gekämpft: – um die Dominanz der katholischen oder evangelischen Konfession, und um die Vorherrschaft des Kaisers im Reich oder um die Unabhängigkeit der Fürsten.

Er endete mit der Unabhängigkeit der Fürsten. Das Ergebnis war: Kleinstaaterei. Was noch vor 1000 Jahren keine Rolle gespielt hätte, konnte dem Anspruch an die kommende industrielle Revolution nicht standhalten. Denn jeder Kleinfürst konnte nun bestimmen, welcher Glaube, Rechte in seinem Kleinstaat galten, davon gab es mehr als 300. Konfessionell wirkte Deutschland ab dato wie ein Flickenteppich: Das wirkt bis heute, wie man an den Wahlen bis heute erkennt. Evangelisch wählt eher SPD, katholisch CDU. Nach dem Ende des Krieges bedeutete eine Ehe zwischen den zwei Glaubensrichtungen das Ende der jeweiligen Familienzugehörigkeit.

Das kollektive Gedächtnis

Schwerer wog allerdings: Das kollektive Gedächtnis hat diesen Krieg, dieses fürchterliche Schlachtfest nicht verarbeiten können. Im Wettlauf der Nationen war Deutschland ausgeschieden, die Menschen mit Leid und Elend beschäftigt. Frankreich und England zogen wirtschaftlich an Deutschland vorbei. Erst über zweihundert Jahre später begann das Land sich auf sein „Können und das Leben“ zu besinnen, war allerdings in zwei Blöcke zerfallen: Preußen und Österreich mit dem heutigen Süddeutschland in der Mitte.

Otto von Bismarck eint das Land

Otto von Bismarck stand 1871 als Reichskanzler auf dem Schachbrett und schaffte für einen Wimpernschlag der Geschichte, das fast unmögliche. Er vereinte die Deutsche Nation. Er unterdrückte politische Gegner, warnte sie scharf vor Einmischungen in die deutsche Politik und führte die modernsten Sozialgesetze aller Zeiten ein.

Eindringlich mahnte er immer wieder, auch noch kurz vor seinem Tod: „Deutschland muss eine militärische Auseinandersetzung mit Russland unter allen Umständen vermeiden“. Bis heute ist er eine der umstrittensten Figuren der deutschen Geschichte, da er als Minister von Preußen drei Kriege führte – als Kanzler aber den Frieden forderte.

Nicht wenige würden seinen Namen und seine Denkmäler gerne komplett aus der Geschichte streichen. Sein Erfolg war beispielhaft und trotzdem hat das Auswärtige Amt hat das Bismark-Zimmer umbenannt. Bismarck ist offenbar kein deutscher Staatsmann, an den man sich im Auswärtigen Amt unter Annalena Baerbock erinnern möchte.

1871 bis 1914

Man muss kein Freund oder Anhänger dieser Zeit sein, aber die reinen Statistiken belegen, kaum jemals ging es Deutschland besser. Ab 1871 nahmen Industrie und Wirtschaft einen rasanten Aufschwung: Deutschland entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einem überwiegenden Agrarstaat zu einem industriell und großstädtisch geprägten Land. Zwischen 1871 und 1914 versechsfachte sich Deutschlands industrielle Produktion, die Ausfuhren vervierfachte sich.

Der Aufstieg Deutschlands vollzog sich in einer Schnelligkeit, die vielen Nachbarstaaten große Sorgen bereitete. Deutschland zog an alle Industriestaaten der Welt vorbei, auch an England – was nicht nur Wut und Empörung auslöste, sondern puren Hass. Die Städte blühten auf und entwickelten moderner Industrie, ungewöhnliche Architektur, großartige Brücken, mit nie dagewesenen Ideen. Die Schwebebahn in Wuppertal zeugt von dieser aufstrebenden Nation.

Die „Schlafwandler“

Der Erste Weltkrieg legte Deutschland erneut in Trümmern. Nach dem Krieg und den Verträgen von Versailles war Deutschland außenpolitisch weitgehend isoliert. Lange Zeit galt, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. In seinem bahnbrechenden Werk kommt der renommierte Historiker und Bestsellerautor Christopher Clark zu einer völlig anderen Einschätzung. Clark beschreibt in die „Schlafwandler“ minutiös die Interessen und Motivationen einzelner Länder.

Das 2012 erschienen Buch ändert die Geschichte nicht mehr. Die alleinige Kriegsschuld trug das Kaiserreich, es hatte rund ein Siebtel seiner Gebiete verloren, musste hohe Reparationszahlungen leisten, die das Wirtschaften unmöglich machte und damit war die nächste Katastrophe und der Zweite Weltkrieg vorprogrammiert. Bis zum heutigen Tag wird darauf Bezug gemommen. Das Wort Nazi gilt als Spitzenreiter zur Verurteilung, Teilung und Ausgrenzung aus dem demokratischen Dialog. Der Begriff bietet zwei Vorteile: Erstens muss er nicht erklärt werden, da er historisch verankert ist. Und zweitens verhindert er den demokratischen Dialog – was bedeutet, dass man nicht diskutieren, nicht verhandeln, nicht kooperieren muss.

So Schlafwandeln wir weiter, sehen Shows die uns müde machen und uns doch nicht schlafenlassen. Der Geschichte kaum noch mächtig, weit entfernt davon, noch positives mit diesem Land und den Ahnen aus vorherigen Jahrhunderten zu verbinden. Immerhin: die jungen chinesischen Studenten erinnern sich an diese Hochkultur:

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