Büste von David Ben-Gurion am Flughafen von Tel Aviv - Foto: Imago

Naher Osten: Kluge und weniger kluge Israelis

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Es gab einmal eine Zeit in Israel, in der man sich offenbar bewußt gewesen war, daß die Existenz des eigenen Staates auf einem Landraub fußt. Das scheint heute keine Rolle mehr zu spielen. Es sieht ganz danach aus, als wollte es niemand mehr wahrhaben.

von Max Erdinger

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Treffen von Albert Einstein (li.) und David Ben-Gurion, Princeton University, Aufnahmedatum unbekannt – Foto: Imago

David Ben-Gurion (1886 – 1973), erster israelischer Premierminister ab 1948: “Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich niemals ein Abkommen mit Israel unterzeichnen. Es ist normal; wir haben ihr Land genommen. Es ist wahr, dass Gott es uns versprochen hat, aber wie könnte sie das interessieren? Unser Gott ist nicht der ihre. Es hat Antisemitismus gegeben, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das ihre Schuld? Sie sehen nur eines: Wir sind gekommen und haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das akzeptieren?” (…) “Lasst uns die Wahrheit nicht ignorieren … politisch sind wir die Aggressoren, und sie verteidigen sich. Das Land gehört ihnen, weil sie es bewohnen, während wir hierherkommen und uns niederlassen wollen, und in ihren Augen wollen wir ihnen ihr Land wegnehmen.” – abgesehen davon, daß den Arabern nicht nur in deren Augen ihr Land weggenommen wurde, sondern abseits aller Augenfragen tatsächlich: Das hätte nicht unbedingt eine ewig schwärende Wunde bleiben müssen, wenn die Araber im Lauf der Zeit gemerkt hätten, daß ihnen die neuen Siedler Vorteile bringen und im Grunde freundlich gesinnt sind. Daraus wurde aber nichts. Israel ist seit seiner Gründung ein Außenposten der westlichen Welt in der arabischen gewesen und es gibt kulturelle Inkompatibilitäten seit jeher. Am ursprünglichen Sachverhalt ändert das aber nichts.

Als tragisch entpuppte sich im Lauf der Zeit, dass im Jahr 1948, dem Jahr der Gründung des Staates Israel, niemand in den USA oder Europa größeren Anstoß an der kolonialistischen Grundhaltung nahm, die eine gewichtige Rolle bei der Idee spielte, ein Land von „unzivilisierten Wilden“ durch kultivierte Westweltaffine besiedeln zu lassen. Damals existierte das britische Empire noch, Indien war gerade erst unabhängig geworden, und Kolonien wie Rhodesien existierten weiterhin. Diese kolonialistische Haltung, die den damaligen Akteuren kaum vorgeworfen wurde, stellt heute jedoch ein enormes Imageproblem für Israel dar.

Die Gründung Israels auf Land, das den einheimischen Palästinensern gehörte, hat langfristige und komplexe Konflikte ausgelöst. Die internationale Gemeinschaft hat damals die Bedeutung und die Konsequenzen dieser Besiedlung nicht vollständig erkannt oder berücksichtigt. Viele westliche Staaten unterstützten die zionistische Bewegung, oft ohne die Bedürfnisse und Rechte der einheimischen Bevölkerung zu beachten. Diese Versäumnisse sind heute schwer zu übersehen und tragen zu Israels schwieriger Position auf der Weltbühne bei.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die globale Sicht auf Kolonialismus und dessen Auswirkungen erheblich verändert. Die Anerkennung von historischen Ungerechtigkeiten und die Forderung nach Gerechtigkeit für indigene Völker sind zu zentralen Themen geworden. Israel sieht sich daher mit wachsendem Druck konfrontiert, eine Lösung für den Konflikt zu finden, die die historischen und gegenwärtigen Realitäten berücksichtigt.

Die heutige Herausforderung besteht darin, eine friedliche Lösung zu finden, die sowohl den Bedürfnissen der Israelis als auch der Palästinenser gerecht wird. Eine dauerhafte und gerechte Lösung ist notwendig, um den anhaltenden Konflikt zu beenden und einen stabilen Frieden zu gewährleisten. Die Idee von „Eretz Israel“, einem Großisrael, das alle umstrittenen Gebiete umfasst, wird jedoch als unrealistisch und konfliktfördernd angesehen.

Es bedarf eines Paradigmenwechsels, weg von kolonialistischen Denkmustern hin zu einem Ansatz, der auf gegenseitigem Respekt und Verständigung basiert. Nur durch Dialog, Kompromiss und die Anerkennung der Rechte beider Völker kann eine friedliche und nachhaltige Zukunft erreicht werden. Die internationale Gemeinschaft spielt dabei eine entscheidende Rolle, indem sie sowohl Druck ausübt als auch Unterstützung bietet, um einen gerechten und dauerhaften Frieden zu fördern.

Am 12.09.2019 erschien in der “Frankfurter Rundschau” ein Porträt der vormaligen israelischen Innenministerin Ajelet Shaked (*1976).

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Ajelet Schaked (*1976) – Screenshot Facebook/Frankfurter Rundschau

Zitiert wird Frau Shaked wie folgt – Übersetzung aus dem Englischen von mir: “Nachdem wir Khan Younis (zweitgrößte Siedlung im Gazastreifen nach Gaza-Stadt, Anm. v. mir.) in einen Fußballplatz verwandelt haben, werden wir die Gelegenheit der Zerstörung dazu nutzen müssen, den (umliegenden) Ländern zu sagen, daß jedes von ihnen eine Quote aufnehmen sollte, 20.000 oder 50.000. Wir müssen alle 2 Millionen loswerden. Das ist die Lösung für Gaza.” – Wie gesagt: Das Porträt von Ajelet Shaked in der “Frankfurter Rundschau” erschien bereits 2019. Über ein Wahlwerbevideo mit Shaked hieß es damals auch: “Sie ist das attraktive Gesicht der „Neuen Rechten“, jung, schön und skrupellos. Untermalt von sanftem Piano-Geklimpere streicht sich Schaked durchs lange Haar, fummelt am Ohrring, wirft sich einen weißen Umhang über die Schulter und steigt lasziv eine geschwungene Treppe hinab, derweil in großen Lettern ihre programmatischen Slogans wie „Juristische Revolution“, „Beschränkung der Justizaktivitäten“ und – noch etwas deutlicher – „das Oberste Gericht zügeln“ über die Szenerie gleiten. Am Ende nimmt sie den Flakon, sprüht ein wenig „Fascism“-Parfüm in die Luft und bemerkt lakonisch: „Für mich riecht das mehr nach Demokratie.“ Man muss kein Verfechter von „political correctness“ sein, um diesen Flirt mit einem Hauch Faschismus geschmacklos zu finden.”

Wer glaubt, die Idee der Zerstörung und Entsiedelung des Gazastreifens sei erst seit dem 7. Oktober 2023 entstanden und würde nun umgesetzt, irrt sich. Bereits in der Vergangenheit gab es israelische Premierminister, die erkannten, dass nur eine friedliche Lösung das Überleben des Staates Israel sichern kann. Einer dieser Staatsmänner war Jitzchak Rabin. Rabin war überzeugt, dass eine dauerhafte Friedenslösung notwendig ist, um das grundsätzliche Problem des israelisch-palästinensischen Konflikts zu bewältigen. Doch seine Friedensbestrebungen endeten tragisch, als er am 4. November 1995 von Jigal Amir, einem Sympathisanten von Benjamin Netanyahu, ermordet wurde.

Seitdem hat sich der politische Kurs unter Netanyahu drastisch verändert. 28 Jahre nach Rabins Tod scheint Netanyahus Politik das Land in eine katastrophale Richtung zu führen. Seine harte Linie und die anhaltende Eskalation des Konflikts könnten am Ende die Staatlichkeit Israels bedrohen. Die Eskalation, die seit dem 7. Oktober 2023 zu beobachten ist, spiegelt eine langjährige Strategie wider, die auf militärische Dominanz und territoriale Kontrolle setzt, anstatt auf eine nachhaltige Friedenslösung. Wenn dieser Kurs nicht gestoppt wird, könnte die Vision eines friedlichen und sicheren Israels für immer verloren gehen.

Es ist entscheidend, dass diejenigen, die für Frieden und Vernunft eintreten, gehört werden, bevor die Spirale der Gewalt das Land in eine noch tiefere Krise stürzt. Der Geist von Rabins Vision eines friedlichen Zusammenlebens sollte wiederbelebt werden, um einen Weg aus der gegenwärtigen Eskalation zu finden. Nur durch Dialog und Kompromiss kann eine Zukunft geschaffen werden, in der sowohl Israelis als auch Palästinenser in Sicherheit und Würde leben können.

Der Israel-Insider Scott Ritter in der Schweizer “Weltwoche”: “Netanjahu hatte rechtsradikale jüdische religiöse Extremisten für seine Sache mobilisiert und Rabin vorgeworfen, sich von der jüdischen Tradition und den jüdischen Werten entfernt zu haben. Doch Netanjahus Auftreten ging über einfache politische Rhetorik hinaus und mündete in politische Gewalt. Im März 1994 wurde in der Nähe der Stadt Ra’anana, nördlich von Tel Aviv, ein Protestmarsch von der rechtsgerichteten religiösen Gruppe Kahane Chai organisiert. Netanjahu marschierte vor dem Kahane-Chai-Protest; hinter ihm wurde ein Sarg mit der Aufschrift «Rabin ist der Grund für den Tod des Zionismus» getragen. Am 5. Oktober 1995 – dem Tag, an dem die israelische Knesset für Oslo II stimmte – organisierte Netanjahu eine Gegenkundgebung mit 100.000 Teilnehmern. Netanjahu trieb die Menge an, die «Tod für Rabin» rief.”

Im November 2023 reicht ein einfaches “I Stand With Israel” in Deutschland nicht mehr aus, um sich moralisch auf der sicheren Seite zu wähnen. Die Unterstützung für Israel ist komplexer geworden und verlangt nach einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den politischen Realitäten und historischen Zusammenhängen. Die einflussreichen “Eretz Israel”-Freunde in hohen staatlichen Positionen treiben das Land in eine ungewisse Zukunft. Diese Zukunft, sollte sie überhaupt eintreten, wäre unweigerlich von täglicher Gewalt und anhaltenden Konflikten geprägt.

Ein eigenständiger Palästinenserstaat ist unvermeidlich – auch wenn dies die zionistischen Träume eines Groß-Israel zunichtemacht. Die Idee eines alleinigen jüdischen Staates auf dem gesamten historischen Gebiet von Israel und Palästina hat sich als unrealistisch und konfliktträchtig erwiesen. Um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, müssen beide Seiten Kompromisse eingehen und die Rechte und Bedürfnisse des jeweils anderen anerkennen.

Die Zeit von Benjamin Netanyahu scheint abgelaufen zu sein. Seine Politik der harten Hand und der Expansion hat Israel in eine Sackgasse geführt, aus der es nur durch grundlegende Veränderungen und einen neuen Ansatz herauskommen kann. Die internationale Gemeinschaft und insbesondere Deutschland stehen in der Verantwortung, diesen Wandel zu unterstützen und aktiv an einer Friedenslösung mitzuarbeiten. Es ist notwendig, sich klar gegen jede Form von Extremismus zu positionieren und konstruktive Dialoge zu fördern, die auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinzielen.

Diese Entwicklung verlangt von allen Beteiligten, ihre bisherigen Positionen zu überdenken und neue Wege des Zusammenlebens zu erkunden. Nur so kann eine friedliche und sichere Zukunft für Israelis und Palästinenser gleichermaßen gesichert werden.

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