Stephan Brandner (Foto:Imago/Popow)

Mit Sicherheit: Ihr Parlament

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Eine beliebte Vorstellung der Deutschen nicht nur in der Vorweihnachtszeit ist, daß sie in einem demokratischen Rechtsstaat mit einer funktionierenden Gewaltenteilung leben und daß die Bundesregierung die ihre sei. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

von Max Erdinger

Im Bundestag kassiert niemand so viele Ordnungsrufe wie der Abgeordnete Stephan Brandner von der AfD, glaube ich. Immer wieder moniert das Bundestagspräsidierende hinter und über dem Rednerpult den „unparlamentarischen“ Sprachgebrauch Brandners. Mal spricht der AfD-Abgeordnete das Bundestagspräsidium nicht richtig an und wird gerüffelt, dann bezeichnet er die Bundesregierung als „Schrottregierung“ und wird wieder gerüffelt. Aber was soll das sein, dieser „unparlamentarische“ Sprachgebrauch? Spricht man denn nicht mehr Deutsch im Bundestag? Brandner spricht Deutsch. Jedoch …

Wer im Bundestag ans Rednerpult tritt, muß sofort lügen. Er muß sagen: „Sehr geehrter Herr Präsident“ oder „sehr geehrte Frau Präsidentin“ und die „Kollegen“ im Plenarsaal muß er mit einem Gruß bedenken, ehe er dann sagen darf, was er zu sagen hat, so lange er sich dabei eines „parlamentarischen“ Stils befleißigt. Der „parlamentarische Stil“ zwingt aber zum Lügen. Der aufrichtige Abgeordnete käme gar nicht dazu, etwas zur Sache zu äußern, wenn er nicht vorher artig seinen Kotau vor dem „parlamentarischen Sprachgebrauch“ gemacht hat. „Hallo, du unausstehliches Präsidierendes!“, geht nicht. Und was die „sehr geehrten Kollegen“ aus den Altparteien angeht: „Grüß Gott schön, Ihr gierigen Dampfplauderer“, geht schon dreimal nicht, ohne daß das Debattenpräsidierende ausflippt. Im Bundestag müssen alle so tun, als seien sie auf einer Versammlung der personifizierten Seriosität. Bundestag wäre nichts für meineneinen. Er würde nur Ordnungsrufe kassieren und niemals eine Rede halten können. Und nur, weil im Bundestag niemand zutreffend charakterisiert werden will. So geht’s doch schon los. Und bereits das ist einfach kein Zustand.

Nehmen Sie einfach einmal so ein Präsidierendes. Das hat vorher schon öfter als einmal mitten in der Nacht über Gesetze abstimmen lassen, obwohl klar ersichtlich war, daß allenfalls ein Drittel der Abgeordneten überhaupt anwesend gewesen ist. Mindestens die Hälfte wäre aber erforderlich gewesen. Trotzdem müssen Sie als Abgeordneter ein solches Präsidierendes auch weiterhin mit „Sehr geehrter Herr Präsident“ oder mit „Sehr geehrte Frau Präsidentin“ anreden, ganz so, als ob Sie ohne weiteres wissen dürften, welchen Geschlechts das Präsidierende ist. Man sieht: Was dem Waidmann die Schonzeit, das ist dem deutschen Parlamentarier der „parlamentarische Sprachgebrauch“. Im Schutze des „parlamentarischen Sprachgebrauchs“ darf er sich an den hinterlistigsten Intrigen gegen den Souverän beteiligen, ohne daß ihn deshalb jemand als „gekauften Intriganten“ bezeichnen dürfte. Der Souverän, das sind Sie und ich. So souverän sind wir, daß wir uns von unseren Stellvertretern Tag und Nacht die Hucke vollügen lassen müssen, ohne daß wir sie deswegen von der Security aus unserem Bundestag werfen lassen könnten. Ja, es ist unserer. Weil außen draufsteht „Dem deutschen Volke“ und nicht „Dem parlamentarischen Sprachgebrauch“.

Vorhin habe ich einen Zusammenschnitt der parlamentarischsten Ordnungsrufe gegen Stephan Brandner angesehen. Eines Tages war der Bundespräsidierende bei einer Debatte anwesend, die er von der Besuchertribüne aus verfolgte. Brandner kritisierte den Bundespräsidierenden für dessen Verwechslung von Musikantendarstellern, die in ihren Texten zu Gewalt aufrufen, mit richtigen Musikern. Das gefiel dem Bundestagspräsidierenden, der bei dieser Gelegenheit Herr Wolfgang Schäuble gewesen war, überhaupt nicht. Schäuble gehört dem Bundestag seit 1972 an und ist der dienstälteste aller Parlamentarier. Er hatte schon einmal eine Parteispende an die CDU über 100.000 DM undeklariert in einer Schublade vergessen. Man munkelt, Olaf Scholz habe den Trick mit der Vergeßlichkeit parteiübergreifend bei Wolfgang Schäuble abgekupfert. Jedenfalls rüffelte der vergeßliche Herr Schäuble den Abgeordneten Brandner von der AfD sinngemäß folgendermaßen: „Wenn sich der höchste Repräsentant unseres Staates huldvoll dazu herabläßt, uns Gewöhnliche im normalhohen Haus mit seiner quasigöttlichen Anwesenheit zu beehren, dann steht es Ihnen, Herr Brandner, nicht zu, die Gelegenheit zu nutzen, um ihn direkt anzusprechen und zu kritisieren.“ Das musste sich Stephan Brandner bieten lassen. Obwohl der unmusikalische Bundespräsidierende Frank-Walter Steinmeier heißt. Keinesfalls hätte sich Brandner umdrehen dürfen, um etwa zu erwidern: „Geh‘ mir nicht auf den Sack, du schmalziger Schubladendemenzler.“ Obwohl das allgemeine Geduze – im öffentlich-rechtlichen Rundfunk z.B. – durchaus salonfähig geworden ist. „Sie schmalziger Schubladendemenzler“ hätte er aber vermutlich auch nicht sagen dürfen. Wegen des parlamentarischen Sprachgebrauchs.

Wir lernen also: Der parlamentarische Sprachgebrauch dient der Simulation einer allgemeinen Honorigkeit im Hohen Hause, die gar nicht durchgängig vorhanden ist. Man muß sich nicht wundern, daß gerade die labilsten Abgeordneten im Schutze ihrer lediglich unterstellten Honorigkeit dazu neigen, hinter den Kulissen hemmungslos „die Sau rauszulassen“. Wenn die grüne Abgeordnete Emilia Fester, eines der parlamentarischen „Nesthäkchen“ im Bundestag, auf der Suche nach Otto von Bismarck durch die hohen Hallen des Hohen Hauses hopst wie eine außer Kontrolle geratene Sprungfeder und dabei drollige Tanzfilmchen von sich dreht, darf sie der Abgeordnete am Rednerpult trotzdem nicht als „infantile Hupfdohle“ bezeichnen. Das Präsidierende hätte etwas dagegen und würde den Redner zur Ordnung rufen. Wegen des parlamentarischen Sprachgebrauchs.

Die Abgeordnete Ganserer, Tessa, von der man hinter vorgehaltener Hand munkelt, sie habe früher einmal „Markus“ mit Vornamen geheißen und sei ein Mann gewesen, erschien vor einiger Zeit derartig „leger“ gekleidet im Hohen Haus, daß man annehmen musste, sie habe den freiwilligen Plenarsaal mit dem obligatorischen Gesundheitsamt verwechselt und wähne sich im Wartezimmer des Amtsarztes. Mir ist nicht bekannt, daß sie dafür einen Ordnungsruf erhalten hätte.

Sowie aber der Abgeordnete Stephan Brandner von der AfD-Fraktion ans Rednerpult tritt, lauern seine „sehr verehrten Kollegen“ schon darauf, ob er sich wohl gleich wieder einen Ordnungsruf einfangen wird. Dabei redet Brandner ganz normales Deutsch, überaus gut zu verstehen.

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