Benjamin Netanyahu vor einem Porträt von Menachem Begin - Foto: Imago

Malheur International: Schlechte Karten für die “Israel-Industrie”

In der internationalen Wahrnehmung entwickeln sich Völkermord und Kriegsverbrechen im Gazastreifen zum irreversiblen Desaster für die Regierung Netanyahu. Sie hat eine vernichtende Presse. Der UN-Sicherheitsrat fordert einen Waffenstillstand, der von den USA und Israel abgelehnt wird. Der militärische Druck auf Israel nimmt zu.

von Max Erdinger

Spätestens seit der sogenannten Coronakrise und der Berichterstattung zum Ukrainekrieg kann man wissen, daß die Meldungen des transatlantischen Mediennetzwerks sich nicht prinzipiell mehr von denen des legendären Radio Eriwan unterscheiden. Hätte Radio Eriwan von einem Wettrennen zwischen einem Amerikaner und einem Sowjetrussen berichtet, bei dem der sowjetische Kommunist verloren hat, hätte die Meldung so gelautet: Hervorragender zweiter Platz für Russland, Amerika Vorletzter.

Radio Eriwan-West

Was muß man also tun, wenn man den heutigen Propagandameldungen von Radio Eriwan-West keinen Glauben mehr schenken kann? Man muß sich die Propaganda der Gegenseite ebenfalls anschauen, um dann selbst abzuwägen hinsichtlich der Verteilung von Wahrscheinlichkeiten. Der Konsum von “Al Jazeera”-Nachrichten wäre das mindeste. Die “Hindustan Times” berichtete von vernichtenden Raketenangriffen der Hizbollah auf Nordisrael und einen Güterzug, mit dem israelische Kampfjets hätten verlegt werden sollen. Fluguntauglich sollen sie geworden sein, die Jets. Außerdem war das Video einer Ansprache Netanyahus vor einer Handvoll IDF-Kommandeuren zu sehen, die am 7. Dezember 2023 unter freiem Himmel stattfand. Netanyahu: Die Hizbollah solle sich gut überlegen, ob sie sich verstärkt einmischen wolle, da er jederzeit dazu bereit sei, Beirut “in Gaza” oder Chan Yunis zu verwandeln. Netanyahu scheint sich sehr sicher zu sein, daß ihn der US-Kongress unterstützen wird “no matter what”. Damit hätte er bis vor wenigen Jahren auch noch richtig gelegen.

Der Ex-UN-Waffeninspekteur Scott Ritter berichtet von einem Audio aus dem Jahr 2001, in dem Netanyahu vor den Seinen schier ungläubig behauptet hatte, es sei förmlich “absurd”, daß die israelische Regierung tun und lassen könne, was immer sie will, da sie vom US-Kongreß “zu 80 Prozent unterstützt” würde. Auch heute noch gibt es Stimmen, die behaupten, Netanyahu habe über das mächtige “American Israel Public Affairs Committee” (AIPAC) den Kongreß besser unter Kontrolle als der US-Präsident oder der Senat. Allerweil nimmt die Macht des AIPAC aber ab, respektive der Gegenwind nimmt zu. Auch dem US-Kongress ist nicht verborgen geblieben, daß sich die USA mit ihrer “no matter what”-Unterstützung für Israel international weiter isolieren. Und zwar zur absoluten Unzeit angesichts der geopolitischen Veränderungen samt der mit ihnen einhergehenden Verschiebung der globalen Machtverhältnisse. Dazu kommt, daß dem amerikanischen Steuerzahler immer schwieriger zu vermitteln ist, warum seine Steuergelder ständig für Kriege anderer Nationen ausgegeben werden.

Was die Unterstützung für den israelischen Massenmord im Gazastreifen (und der West Bank / Golan / mind. 175 ermordete Palästinenser seit dem 7. Oktober) angeht, hat US-Außenminister Blinken recht unglücklich eine Position von “Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass” bezogen. Waffenlieferungen an die Israelis? – Ja. Aber bitteschön sparsam morden, damit der Völkermord nicht gar so unhumanitär rüberkommt. Außerdem: An einem Palästinenserstaat führe wohl kein Weg vorbei. Heftiger Protest von Seiten Netanyahus. Auf einmal debattiert man in den USA auch, ob eine Nato-Mitgliedschaft überhaupt noch zeitgemäß ist. Können sich die Europäer nicht endlich selbst um ihre Sicherheit kümmern? – Bigotterie im Quadrat. Daß die Europäer losgelöst von den geopolitischen Interessen der Amerikaner agieren könnten, ist in Washington ein Albtraum, Nato hin oder her. So weit käme es noch, daß der Vasall die Absicherung seines Vasallenstatus’ selbst bezahlt.

Die nahöstliche Zornesader

In der islamisch-arabischen Welt schwillt unterdessen die Zornesader immer weiter an. Die türkische Armee ist 2 Millionen Mann stark, als zweitgrößte Nato-Armee hinter der amerikanischen gut ausgerüstet, und Präsident Erdogan gilt als politischer Führer der sunnitischen Welt, mithin also als Agendasetter in allen jenen Ländern, die mit “-stan” hinten aufhören und ehemals den südlichen Teil der Sowjetunion bildeten. Nicht auszudenken, Erdogan und der ägyptische Präsident Abd al-Fattah as-Sisi gerieten in ihren Ländern innenpolitisch so unter Druck, daß sie in den derzeitigen Nahost-Konflikt eingreifen müssten, um ihr eigenes Überleben an der Macht sicherzustellen. Der jüngste Besuch von Wladimir Putin in den Vereinigten Arabichen Emiraten und Saudi Arabien sprach schon rein optisch Bände. Flankiert von vier vollbewaffneten SU-35-Kampfjets landete seine “Борт номер один” (“Air Force One”) in Abu Dhabi. Wos a Privileg! Putin wurde vom dortigen Staatschef Muhammad bin Zayid bin Sultan Al Nahyan persönlich am Flughafen abgeholt und von dort in einer derart prächtigen Weise zu den Gesprächen eskortiert, daß man unwillkürlich an eine Kaiserkrönung denken musste. Kampfjets der Araber malten derweilen die russischen Farben an den Himmel über Abu Dhabi. In Saudi Arabien ein ähnliches Bild. Das alles war ein deutlicher Kontrast zu dem ärmlichen Zeremoniell, das sich der bedauernswerte Herr Blinken (Disclaimer: I’m a Jew!”) drei oder vier Wochen zuvor hatte bieten lassen müssen. Und dann durfte er auch noch 14 Stunden warten, bis Mohammad bin Salman geneigt war, ihm für ein paar Minuten das Ohr zu leihen. Und nur, um beschieden zu bekommen, daß er sich fruchtlos wieder vom Acker machen könne. Mit anderen Worten: Putin hat die arabische Halbinsel im Sack.

Am 6. Oktober hatte es noch so ausgesehen, als sei die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Israelis und den Saudis von Erfolg gekrönt. Mit der massenmörderischen israelischen Reaktion auf den bestialischen Terrorangriff vom 7. Oktober, für den Israel die Sympathien und den Beistand der ganzen Welt hätte haben können, scheint nun auch diese Normalisierung wieder in Frage gestellt – und dem Vernehmen nach soll Russland dem Iran die Lieferung von Atomwaffen versprochen haben, seitdem aus Netanyahus Kabinett heraus geäußert worden war, daß man im Falle des israelischen Untergangs per Atombombe über dem Gazastreifen den gesamten Nahen Osten mit in den Abgrund zu reißen gedenkt. Bereits Mitte Oktober hatte Pakistan erklärt, man wolle der Türkei Atomwaffen zur Verfügung stellen, wenn sich Erdogan entschleißen sollte, den Palästinensern beizustehen. Schöne Bescherung! In den USA debattiert man auf einmal die Überflüssigkeit der Nato, die zweitstärkste Nato-Armee in der Türkei würde sich ebenfalls verdünnisieren – und die übriggeblieben Nato-Länder stellen zusammengenommen nicht einmal 20 Prozent der Kampfkraft, die mit den USA, der Türkei und der hochgerüsteten Quasi-Nato-Armee der Ukrainer vor bald zwei Jahren noch vorhanden gewesen ist. Derweil sind russische Atomwaffen für Iran im Gespräch.

Alles in allem sind das längerfristig ganz schlechte Karten für den Staat Israel. Da gab es früher deutlich bessere. Und mit jedem Tag, an dem der Völkermord und die seriellen Kriegsverbrechen der Israelis in den Palästinensergebieten weitergehen, droht der internationale Watschenbaum umzufallen und ganz Israel zu treffen. Netanyahu müsste heute so dringend weg wie Selenskyj schon vor anderthalb Jahren. Und die USA hätten ja auch beide ganz gerne vom Hals, scheinen sich aber nicht ganz im Klaren darüber zu sein, wie sie das bewerkstelligen sollen. Dabei wäre es zumindest im Fall Netanyahu recht einfach: Keine weiteren Waffenlieferungen und Abzug der Marine aus dem östlichen Mittelmeer, sollte die massenmörderische Ungeheuerlichkeit in den Palästinensergebieten nicht sofort aufhören. Da ist aber eben noch das AIPAC davor. Einer der einflußreichsten AIPAC-ler ist Senator Chuck Schumer – und den hätte man sehen sollen hier in Deutschland, wie er sich mit anderen AIPAC-lern aus den Reihen der US-Demokraten an den Händen fasste, um wie im Kindergarten Ringelreihe zu spielen und trotzig hüpfend “We Stand With Israel” dabei zu skandieren. Das sah sehr nach “Netanyahu vor, noch ein Eigentor” aus, wie man bei den deutschen Entschuldigern von Völkermord und Kriegsverbrechen singen würde.

Wann ist die Hamas besiegt?

Das erklärte Kriegsziel Netasnyahus ist ja, daß er die Hamas radikal auslöschen möchte. Entschuldigung, aber da lachen die Hühner. Wahrscheinlich müsste die IDF alle Palästinenser killen, um die Hamas auszuradieren, weil derzeit für jeden gekillten Palästinenser zehn Hamas-Kämpfer nachwachsen dürften. Die Bevölkerung des Gazastreifens besteht zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen, die sich derzeit schwören dürften, nicht eher zu rasten und zu ruhen, als bis der letzte Israeli ins Gras gebissen hat. Aber so what? “Wir müssen” natürlich voll an der Seite Israels und Netanyahus stehen, mindestens so hackevoll wie schon an der Seite der Ukraine, auch wenn “wir” uns dafür von der ganzen welt verachten lassen “müssen”, während sie sich ohnehin schon ausschüttet vor Spott- & Hohngelächter über die voll entklöteten deutschen “Moralweltmeister” und ihre wahnsinnig clevere Energie- & Wirtschaftspolitik.

Die ganze Welt versteht uns einfach nicht. Wir haben eben Charakter. Mit nur einem Mal Völkermörder und Kriegsverbrecher gehen wir noch lange nicht nachhause. Wenn wieder irgendwo ein Völkermord stattfindet, dann klatschen wir Beifall und ermutigen zu einem frohgemuten “Weiter so!”. Vor allem, wenn uns die Völkermörder und Kriegsverbrecher wegen der “Staatsräson” gefälligst sympathisch zu sein haben. Keine Widerrede, Sie Antisemidingsbums! So tiefe Bücklinge kann der Herr Habeck in Katar, in Russland, der Türkei und anderswo gar nicht machen, ohne zum Maulwurf zu werden, als daß er das internationale Renommee Deutschlands wiederherstellen könnte. Die Frau Baerbock braucht es gar nicht erst zu versuchen. Olaf Scholz auch nicht. Aber was soll’s: Die Solidarität mit unseren “die Juden” ist schließlich das wichtigste. Pflichtschuldigst haben wir sie derartig ins Herz geschlossen, daß wir rein gar keine Unterscheidung mehr machen wollen zwischen der Vielzahl je individueller Juden, die es gibt auf Gottes fabelhaftem Erdenrund. Ehrlich gesagt glaube ich auch, daß eine feingeistige Differenzierung zwischen dem Judentum und dem Hardcore-Zionismus faschistischer Prägung viele Deutsche überfordern würde. Ja, ja, ich sehe sie schon wieder im Quadrat hüpfen, meine Moralweltmeister.

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Benjamin Netanyahu empfängt die Erleuchtung – Foto: Imago

Jetzt aber mal ein ernsthaftes Wort zum Thema Solidarität. “Wir müssen” nämlich immer solidarisch sein. Doch, doch, müssen wir. Und “standen with” müssen wir die ganze Zeit zum Zwecke der bequemen und preisgünstigen Wohlanständigkeit. Da kommen die drei Hamas-Terroristen, die “wohl einen Anschlag” in Deutschland geplant hatten und festgenommen wurden, “wohl” ziemlich gelegen. Weil: Unsere Grenzen sind ja nicht gesichert. Wenn also “wohl” drei Hamas-Terroristen festgenommen wurden, dann heißt das was? – Genau: “Dunkelziffer” heißt das. Wir haben Hamas-Terroristen im Land. Eine riesige Dunkelziffer. Es sind Hunderte. Ach was, Tausende. Ja, was machen wir denn da? Da schreiben wir am besten einen lieben Brief an den lieben Herrn Netanyahu. So ungefähr könnte sich der lesen:

“Liebster Herr Netanyahu!

Jetzt haben wir den Salat: Hamas-Terroristen in unserem Land. Ist das nicht schrecklich? Wir brauchen Ihre Hilfe. Lassen Sie uns bloß nicht im Stich. Ob Sie uns wohl ein wenig bombardieren könnten? Natürlich nur, wenn Sie möchten in Ihrem gerechten Kampf gegen die gar gräßliche Hamas. Löschen Sie diese Unholde rrruhig rrradikal aus! Wir können ein paar Megatonnen Bomben aushalten. Wir sind das gewöhnt. Außerdem standen wir total with Israel. Wegen unserer schönen Solidarität mit den “die Juden”. Bitte löschen Sie die Hamas in unserem Land aus bis keiner von diesen Mördern mehr am Leben ist. Nur zu! Keine falsche Bescheidenheit. Wir wissen, daß ein jüdisches Leben mindestens zwanzigmal so viel wert ist, wie das eines Palästinensers. Alle Hamas-Kämpfer und Terroristen, die. Unser eigenes Leben ist vielleicht nur zehnmal weniger wert als ein jüdisches. Wir hoffen, Sie mit dieser Berechnung nicht beleidigt zu haben und verbleiben in freudiger Erwartung des ersten Bombenabwurfs Ihrerseits, total solidarisch und mit den allerdemütigsten Grüßen – Ihre Gerade-wir-als-Deutschen. P.S.: Frohe Weihnachten!”

Sei es wie es sei: Netanyahu wird bald Geschichte sein. Der Völkermord im Gazastreifen läßt sich nicht mehr lange durchhalten, zumal trotz Geheimhaltung Gefallenenzahlen der IDF durchgesickert sind, die alarmierend sind. “Al Jazeera” berichtete vor einigen Tagen bereits, in Gaza seien 60 israelische Soldaten bei einem einzigen Hamas-Angriff ums Leben gekommen. Ob’s wahr ist? – Man weiß es nicht genau. Angesichts der weltweiten Berichterstattung zum israelischen Vorgehen im Gazastreifen erlaube ich mir aber eine Prognose. In den Geschichtsbüchern wird dereinst zu lesen sein, daß der bestialische Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober von den Israelis mit einem Völkermord und einer Serie von Kriegsverbrechen beantwortet wurde und daß Israel seither ein äußerst schlechtes Image hat. Angesichts einer solchen Prognose frage ich mich schon, wie kurzsichtig ein deutscher Journalist sein müsste, der die weltweit überwiegende Berichterstattung zum Thema ignoriert und in diesen Tagen riskiert, für den ganzen Rest seines Lebens als Rechtfertiger und Entschuldiger von Völkermord und Kriegsverbrecher stigmatisiert zu werden, ohne das jemals wieder abstreiten zu können. Für Völkermord und Kriegsverbrechen gibt es nämlich – tut mir leid! – keine denkbare Rechtfertigung. Motiv ganz egal. Gottlob bin ich weitsichtig und brauche nur eine Lesebrille. Sieger schreiben schließlich die Geschichte. Und Israel wird das aller Voraussicht nach nicht sein, das die Geschichte schreibt. Nichts zu danken.

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