In den vergangenen Jahren hatte der Bürger viel Zeit und auch viel Anlaß, sich mit ein paar grundsätzlichen Fragen hinsichtlich jener Demokratie zu beschäftigen, in welcher zu leben er glaubt. Ein Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert, das wohl auf Ovid zurückgeht, besagt: “Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen.” Da ist was dran.
von Max Erdinger
Die Idee an sich ist ja schön ausgedacht. Das Volk arbeitet, erwirtschaftet Wohlstand, zahlt Steuern – und die hellsten seiner Köpfe, mit Verstand und Patriotismus angefüllt bis Oberkante Unterlippe, leisten schier Übermenschliches, um derweilen Volkes Interesse zu vertreten. Der Tag hat 24 Stunden und der Bürger kann sich schließlich nicht um alles kümmern. Die Volksvertreter gibt es in unterschiedlichen Farben, je nachdem, welcher Partei sie angehören – aber alle eint sie der unbezwingbare Wille, ihr Bestes für das Volk zu geben. Die Volksvertreter bilden mit dem Volk zusammen das legendäre “Wir”, das dann zur ewig gültigen Grundlage von “Wir müssen, wir brauchen & wir dürfen nicht” wird. Unterschiedliche Wege führen zu einem gemeinsamen Ziel. Über die Wege läßt sich streiten, nicht aber über das Ziel. Das ist die schöne Demokratie. Friede-Freude-Eierkuchen.
Wenn sich die Zeiten ändern und wir uns in ihnen, dann sind logischerweise weder Volksvertreter noch Volk das, was den Erfindern von Partei und Grundgesetz vor Augen stand während sie über das Gemeinwesen nachdachten. Nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo. Wenn die Bedeutung von Nation sich ändert, warum dann nicht auch die von Parteien und Volksvertretern? Wenn das Volk erst zur Bevölkerung und später dann gar zu den “die Menschen in Deutschland” wird, warum ändert sich dann das Wort “Volksvertreter” nicht, spitzfindig gefragt?
Vom Volksvertreter zum Wahlkreisvertreter
Warum nicht die Parteien allesamt auflösen, wenn man sie mehr denn je als Hebel identifizieren muß, den mächtige Lobbyisten und Korporationen nutzen, um ganze Völker in die Geiselhaft ihrer eigenen Interessensvertretung zu nehmen? Warum nicht jeweils zwei parteilose Abgeordnete aus jedem der 300 Wahlkreise in den Bundestag entsenden, die von ihrem jeweiligen Wahlkreis wieder zurückgerufen und durch zwei andere ersetzt werden können, wenn der jeweilige Wahlkreis mit ihrer Arbeit unzufrieden ist? Wozu einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dessen Intendanzen nach Parteienproporz ausgewürfelt werden? Warum nicht ausgewiesene Experten für das jeweilige Ressort, dem sie als Minister vorstehen sollen? Warum nicht zwingend einen renommierten Verfassungsrechtler als Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts? Wozu überhaupt noch Parteien?
Wenn die Demokratie Bestand haben soll und wenn wir uns mit der Zeit ändern, warum dann das demokratische System nicht so ändern, daß es trotz der Änderungen in der Zeit eine Demokratie bleiben muß? Es stimmen heute die einstmals als unabänderlich gegebenen Voraussetzungen für die Demokratie nicht mehr. Das ist kein Fehler der Demokratie, sondern ein Fehler des Systems, von dem man einst angenommen hatte, daß es für eine Demokratie funktionieren müsste. Dieses System ist aber auf den verschiedensten Ebenen kontraproduktiv geworden. Wenn stimmt, was Hans Herbert von Arnim vor über dreißig Jahren schon behauptet hatte, nämlich, daß sich die Parteien den Staat zur Beute gemacht hätten, dann wird es höchste Zeit, dem endlich einen Riegel vorzuschieben.
Daß Parteifunktionäre selbst kein Interesse daran haben, einmal in diese Richtung zu denken, versteht sich von selbst. Die Frage ist also, wie man die Parteien trotzdem abschafft, wie man die öffentliche Meinungsbildung den Klauen einiger großer Medienkonzerne wieder entreißt und wie dafür zu sorgen wäre, daß Schulen und Universitäten wieder gebildete Leute hervorbringen statt eingebildeter. Sämtliche Ideologen und Visionäre wären zu ersetzen durch Pragmatiker und Realisten.
Außerdem ist die Reproduktion nicht ausschließlich Frage des individuellen Lebensentwurfs, sondern die Überlebensfrage eines ganzen Volkes. Wer die weiterhin der feministischen Deutungshoheit überlassen will, anstatt die kinderreiche Familie als Ideal zu begreifen, braucht sich im Grunde gar keine Gedanken mehr über die Zukunft zu machen. Der kann dann auch alles so weiterlaufen lassen wie bisher, weil sich Zukunft auf der rein individuellen Ebene ohnehin auf natürlichem Wege erledigt. Leben ist dennoch die Voraussetzung für alles weitere. Wir sind das Volk. Auch ohne Parteien und deren Funktionäre. Die Frage ist, ob wir überhaupt noch eines bleiben wollen oder ob wir uns damit abgefunden haben, zur Gesellschaft der “die Menschen” degeneriert zu sein. Irgendwelche “die Menschen” reproduzieren sich immer, ein “deutsches Volk” hingegen nicht.