Kant in Kaliningrad (Foto: KRONA/Shutterstock)

Sieh an: Bei Kant treffen sich Scholz und Höcke wieder

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Vielleicht gibt es doch mehr Gemeinsamkeiten zwischen Olaf Scholz und Björn Höcke, als viele denken. Kann aber auch sein, dass die beiden Genannten den lieben Herrn Kant ganz unterschiedlich interpretieren, sozusagen das Passende für sich herauspulen:

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält die Schriften des Philosophen Immanuel Kant angesichts des Krieges in der Ukraine für aktueller denn je.

„Kants große Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dauerhaften Friedens in kriegerischer Zeit gehört heute wieder ganz oben auf die Tagesordnung“, sagte Scholz am Montag beim Festakt zum 300. Geburtstag von Kant in Berlin. Deshalb sei es eine gute Idee, Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ gerade jetzt aufs Neue zur Hand zu nehmen.

„Wichtig ist zunächst, dass der große Jubilar selbst und sein Werk in den Umwälzungen der Gegenwart nicht unter die Räder kommen“, so der Kanzler. Berichten aus Kaliningrad zufolge sei Kant dort heute allgegenwärtig. „Die Kant-Vereinnahmung ist umfassend, der Philosoph von Königsberg ist heute so etwas wie die Marke von Kaliningrad.“ Sein Geburtshaus sei zwar schon vor langer Zeit abgerissen worden, aber dafür heiße die Universität der Stadt seit 2005 Immanuel-Kant-Universität. „Es gibt in Kaliningrad den Kant-Market und Kant-Schokolade, man trinkt Kant-Glühwein, man kauft Kant-Kühlschrankmagnete und Kant-Becher.“ Brautpaare ließen sich zudem vor Kants Grab fotografieren.

„Das alles scheint eine direkte Folge der persönlichen Kant-Leidenschaft zu sein, die der Machthaber in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich bekundet hat“, sagte Scholz. Kant, das habe Russlands Präsident Wladimir Putin betont, sei einer seiner „Lieblingsphilosophen“. Das stehe im Gegensatz dazu, dass alle Versuche, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, an den Haaren herbeigezogen seien. „Schon Kant kritisierte hellsichtig die ungute Angewohnheit, böse Absichten an anderen zu erklügeln„, sagte der Kanzler.

„Was für Kants Vorstellungen von Menschenrecht und Menschenwürde gilt, das gilt genauso für seine Gedanken zu Krieg und Frieden: Auch hier hat Putin nicht das geringste Recht, sich positiv auf Kant zu beziehen – im Gegenteil.“ Seit Russland unter Putins Oberbefehl seinen „neoimperialen Angriffskrieg“ gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen habe, sei in Europa und über Europa hinaus nichts mehr, wie es war.

„Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen. Kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passt nicht zusammen“, so Scholz weiter. Daraus folge aber keineswegs, dass Putin und sein Machtapparat nun von sich aus darauf verzichten würden, Kant für ihre Zwecke zurechtzubiegen. Das Gegenteil sei der Fall: „Gerade in diesem Jubiläumsjahr sind aus Russland besonders verstörende und abwegige Kant-Auslegungen zu hören.“

Dabei sei Kants kategorische Haltung völlig klar: „Kein Staat soll sich in die Verfassung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ Genau das aber tue Russland in der Ukraine. „Und eindringlich warnt Kant vor Angriffskrieg und Söldnertum, vor dem Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen.“ Nichts anderes aber stelle doch das „zynische Verheizen eigener Rekruten, Strafgefangener und Söldner“ dar, wie es das russische Regime im Kampf gegen die Ukraine massenhaft betreibe.

Letztendlich sei für Kant klar gewesen: „Wer angegriffen wird, der darf sich verteidigen“, so Scholz. „Und der soll auch nicht gezwungen sein, sich auf einen Friedensvertrag einzulassen, den der Aggressor mit dem bösen Willen abschließt, den Krieg bei „erster günstiger Gelegenheit“ wieder aufzunehmen.“ Ein solcher Friedensschluss „wäre ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet“. Diese Warnung Kants sollte man bedenken, wenn man nach Auswegen aus den Kriegen unserer Zeit suche, sagte der Kanzler.

Und das schreibt Björn Höcke über diesen Philosophen:

Gestern vor genau dreihundert Jahren wurde der spätere Professor für Logik und Metaphysik in Königsberg i. Pr. geboren. Seine Ideen sind Meilensteine der Philosophiegeschichte. Sie wurden sogar als »kopernikanische Wende« des menschlichen Denkens eingeordnet, hinter die es kein Zurück mehr gibt.  Die »Kritik der reinen Vernunft« gilt als Kants Hauptwerk, das man allerdings zu den anspruchsvollsten Lektüren der Weltgeschichte rechnen muß. Kants Zeitgenosse, der führende Kopf der jüdischen Aufklärung, Moses Mendelssohn, bezeichnete es jedenfalls als »Nervensaft verzehrendes Werk«.

Ich selbst näherte mich Immanuel Kant Anfang der 2000er Jahre mit der Lektüre von Steffen Dietzschs Kant-Biographie. Im Kapitel »Kants unmerkliches Lächeln über die Aufklärung« führt der Autor aus: »Kant ist habituell der geistigen Haupttendenz seines Zeitalters verpflichtet: es ist eine Zeit des Prüfens, des Infragestellens und der Kritik, der sich alles zu unterwerfen habe – Majestät, Gesetzgebung, Denken, Religion und Sittlichkeit.« (S. 202) Wie sehr bedürften wir die Wiederbelebung dieses Zeitgeistes im Hier und Heute, in der die Meinungsfreiheit als Königsrecht der Opposition unterdrückt wird und eine neue ideologische Borniertheit dazu geführt hat, daß westliche Staatenlenker, etablierte Politiker aller Colour, Journalisten und leider sogar Wissenschaftler kaum noch in der Lage sind, das von ihnen angefertigte Schwarz-weiß-Bild von Geschichte und Gegenwart kritisch zu hinterfragen. 

In diesem Zusammenhang zitiert Dietzsch auch eine der bekanntesten Passagen aus Kants 1784 veröffentlichten Essay »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«:

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner auch ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung!« (Hervorhebungen durch I.K im Original) Man wünschte sich, daß diese zeitlose Einsicht jedem heute lebenden Staatsbürger in Fleisch und Blut überginge!

Das Königsberg Kants ist durch einen britischen Bombenangriff im Herbst 1944 weitestgehend zerstört worden, die Belagerung der zur Festung erklärten Stadt durch die Rote Armee erledigte den Rest. Von den ursprünglich knapp 400.000 deutschen Einwohnern blieben 100.000 zunächst in Königsberg. Drei Viertel von ihnen starben bis 1947 an Krankheiten und Hunger, darunter meine Urgroßeltern väterlicherseits.

Nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts freut es mich deswegen besonders, daß das Andenken an Immanuel Kant im heutigen Kaliningrad in Ehren gehalten und sogar gefördert wird. An seinem Grab finden sich fast täglich frische Blumen. 2021 unterzeichnete Wladimir Putin sogar einen Erlaß zur Feier des 300. Geburtstags Kants, mit dem ein Organisationskomitee eingesetzt und zahlreiche Restaurationsvorhaben in die Wege geleitet wurden.

Mit Blick auf die heutige Lage Europas wäre Kant sehr besorgt. Der Denker des »ewigen Friedens« würde sich wünschen, daß seine Heimatstadt zum Begegnungs- und Versöhnungsort zwischen West und Ost, vor allem zwischen Deutschen und Russen würde. Kants Denken ist geistige Brückenbaukunst vom Feinsten. Wir brauchen sie heute vielleicht dringender denn je!

Das wäre dann doch mal Stoff für ein TV-Duell der beiden Kanzlerkandidaten. (Mit Material von dts)

 

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