Foto: Pixabay

Frische Ware aus Europa

Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit, und wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. 1984, George Orwell

Christliche Sklaven und muslimische Herren: 300 Jahre lang versklavten Piraten aus dem Maghreb Hunderttausende von Europäern. Warum wissen wir so wenig darüber? Darüber, dass weite Küstenabschnitte in Italien menschenleer waren, weil die Bewohner aus Angst vor den Sklavenjägern ihre Dörfer am Meer verließen?

Weit mehr Christen als Historiker bisher annahmen, wurden jahrhundertelang von Moslems verschleppt. Mehr als eine Million Europäer wurden zwischen 1530 und 1780 von nordafrikanischen Piraten verschleppt und in den Regionen, die heute Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen umfassen, als Sklaven gehalten. Besonders Seeleute und Fischer gehörten zu den Opfern. Im Prinzip lief aber jeder, in dieser Zeit Gefahr Sklave zu werden.

Dieser Aspekt der Geschichte wurde vergessen

Dass auch Europäer Opfer von Sklaverei geworden sind, scheint aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar. Die Eroberung der Welt durch europäische Kolonialmächte und der transatlantische Sklavenhandel haben diesen Aspekt der Geschichte des Mittelmeerraums vollkommen in Vergessenheit geraten lassen. So weist die Versklavung von hellhäutigen und christlichen Bewohnern des Mittelmeerraums darauf hin, dass die Sklaverei in der frühen Neuzeit nicht von Anfang an das Resultat eines tief verwurzelten europäischen Rassismus gegen Menschen schwarzer Hautfarbe gewesen ist.

Ein Leben in Ketten

Besonders gut ist das Beispiel des jungen Matrosen Johann Michael Kühn dokumentiert. Sein Schiff wird auf der Fahrt von Hamburg ins andalusische Cádiz gekapert. Die wehrlose Mannschaft landet auf dem Menschenmarkt von Algier, dem „Badistan“. Kühn nennt ihn einen „Sammelplatz allen irdischen Jammers“.

Nackt und in Ketten wird der junge Seemann von Interessenten betastet, zum Hüpfen und Laufen gezwungen. Der Korsar, der ihn erbeutete, behält ihn dann aber selbst und zwingt ihn, bei den Raubfahrten mitzumachen. Seine Galeere heißt „Goldene Sonne“, und das nächste Opfer ist wieder ein Schiff aus Hamburg.

Moslems und Christen

Die Wurzeln für diese Sklaverei liegen tief im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, als Moslems und Christen um die Vorherrschaft in Südeuropa und Nordafrika rangen. Dabei erwies sich über rund 1000 Jahre, bis ins 18. Jahrhundert hinein, die Berberküste als uneinnehmbar für die Europäer. Die „Küste der Piraten“ reichte von Tanger bis Tripolis. Von dort aus machten die Korsaren nicht nur die Handelsschifffahrt auf dem Mittelmeer unsicher, zum Teil sogar unmöglich. Sie überfielen auch Dörfer und Städte an den Küsten. „In die Sklaverei zu geraten, war eine reale Gefahr für jedermann, der ins Mittelmeer reiste oder an der Küste lebte.

In der Gegenwart wird der grausame Menschenhandel der europäischen Kolonialmächte korrekterweise auf das Schärfste verurteilt. Nach jüngsten Schätzungen fielen ihm in den dreieinhalb Jahrhunderten zwischen 1519 und 1867 etwa elf Millionen Afrikaner zum Opfer. Der noch viel größere Menschenverlust Afrikas geht auf das Konto muslimischer Menschenjäger: Sie haben in zwölf Jahrhunderten 17 Millionen Afrikaner in die arabische Sklaverei gebracht. Und dazu, auch das ist kaum noch bekannt, mehr als eine Million Europäer.

Das millionenfache Leid der „weißen Sklaven“ – den Begriff prägte der US-Senator und Anti-Sklaverei-Kämpfer Charles Sumner 1847 – ist heute weitgehend vergessen. Es wird im Geschichtsunterricht allenfalls am Rande gestreift, in Büchern kaum thematisiert. Der Verdacht, dass Europäer nicht die Täter sind, sondern auch ohnmächtige Opfer, passt einfach nicht in das rechte Narrativ von der überlegenen europäischen Zivilisation noch in das linke Narrativ von der europäischen Unterdrückung der anderen Völker. Die Piraterie, die von der afrikanischen Mittelmeerküste ausging und ganz Europa unsicher machte, wird von den Historikern bis heute unterschätzt, verdrängt und allseits ignoriert.

 

6e27643dc07243b3b72a9eabc2ccd6ca