Nürnberg, Juni 1945 - Foto: Imago

Nürnberg: Die Allee der Gedenkstätten

Gedenken ist wichtig, Gedenken macht froh. Wir sind gern lustig und gedenken also. Wessen man alles gedenken könnte. Eine denkwürdige Überlegung.

von Max Erdinger

In München gibt es den “Platz der Opfer des Nationalsozialismus” als Teil des Altstadtringes. Das ist ein bißchen sparsam. Oder kleinkariert. Oder beides. Es gab so viele Opfer des Nationalsozialismus, daß statt eines Altstadtringes ein “Ring der Opfer des Nationalsozialismus” das mindeste gewesen wäre. Obwohl: München hatte ja auch den propagandistischen Beinamen “Hauptstadt der Bewegung”. Wegen des Marsches auf die Feldherrnhalle, glaube ich. Da sollte eigentlich auf den Ortsschildern unter dem Wort “München” heutzutage statt eines profanen “Landeshauptstadt” etwas anderes zu lesen sein: “Hauptstadt der Opfer des Nationalsozialismus”. Ich schreibe das, weil ich gern der Anständigste und Schamvollste bin. So gern will ich das sein, daß ich mir sogar überlege, ob sich “Opfer des Nationalsozialismus” nicht verbessern ließe, um noch besser Gedenken machen zu können. Weil: Die Opfer des Nationalsozialismus sind ja recht eigentlich die Opfer der Nationalsozialisten gewesen, Opfer von fürchterlich durchideologisierten und skrupellosen – wie man heute sagt: verhetzten – Personen also, weniger die Opfer einer Weltanschauung. Soll in München gar nicht der Opfer von Verbrechern gedacht werden, sondern der Opfer einer Weltanschauung? Wenn das so wäre: Es gäbe auch noch andere Weltanschauungen und deren Opfer. Hallo Trier!? Lest ihr mit? Aber einerlei: Das überlege ich mir ein anderes Mal genauer, weil ich hier von Oberbayern auf Mittelfranken kommen will.

Als “Frankenmetropole” wird die altehrwürdige Stadt Nürnberg bezeichnet, Weltstadt bereits zu Zeiten, als das spätere München noch eine unbedeutende Mönchsansiedlung am Ufer der Isar gewesen ist. In Nürnberg gibt es ebenfalls einen “Platz der Opfer des”. Das ist der frühere Friedrich-Ebert-Platz. Seit 1946 heißt er “Platz der Opfer des Faschismus”. Obwohl Nürnberg die nationalsozialistische “Stadt der Reichsparteitage” gewesen ist. Eine erzprotestantische Stadt, in der die Nationalsozialisten schon vor 1933 spektakuläre Wahlergebnisse eingefahren haben. Nürnberg ist auch “Hauptstadt der nationalsozialistischen Hetzpresse” gewesen. Julius Streicher gab dort den “Stürmer” heraus. Im Rahmen der Nürnberger Prozesse 1946 wurde Streicher auch in Nürnberg zum Tode verurteilt und aufgeknüpft. Das war alles sehr nationalsozialistisch, in Nürnberg damals. Die FRankenmetrople war praktisch schon früh von Nationalsozialist-isten bevölkert, von Leuten also, die im Verhältnis zum Nationalsozialismus in etwa das gewesen sind, was der heutige Islamist im Verhältnis zum normalen Moslem ist. München hingegen hat schon ein deutlich italienischeres Flair als Nürnberg. Eigentlich sollten die beiden Städte Plätze tauschen. Wegen Mussolini, dem Erfinder des Faschismus. Der “Platz der Opfer des Faschismus” zieht nach München um und bekommt im Gegenzug von München den “Platz der Opfer des Nationalsozialismus”. Damit das alles seine Ordnung hat. Aber egal jetzt. Wer Genaueres über die antifaschistisch-antinationalsozialistische Gedenkenmacherei wissen will, kann sich ja mit der Geschichte der “Opfer des Faschismus-Ausschüsse” (OdF-Ausschüsse) nach dem Krieg beschäftigen. Das ist eine interessante Geschichte, weil dort erzählt wird, wie sich das Gedenken damals nach den bündnispolitischen Präferenzen im Kalten Krieg richtete.

Aktuell soll in Nürnberg eine weitere Gedenkstätte entstehen. Sie trägt den wundervollen Namen “Zentrale NSU-Gedenkstätte”. Mit dem legendären Fahrzeughersteller aus Neckarsulm hat das nichts zu tun. Sie erinnern sich vielleicht an den NSU-Prozess. Das war ein Strafverfahren gegen fünf Personen, die angeklagt wurden, an den Taten der braunlinksextremen Terrorgruppe “Nationalsozialistischer Untergrund” (NSU) beteiligt gewesen zu sein. Einige der Mordopfer dieser braunlinksextremen Terroristen waren auch im Raum Nürnberg zu beklagen. Extremisten und Terroristen jedweder Couleur tendieren dazu, andere Leute einfach zu erschießen oder in die Luft zu sprengen.

EU-Gedenkstätten

Diese “Zentrale NSU-Gedenkstätte” soll nun in räumlicher Verbindung stehen zum bereits existierenden “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände”. Das ist für sich genommen schon klasse, weil da man toll Gedenken machen kann. Fast besser noch als im “Dokumentationszentreum Obersalzberg” in Berchtesgaden. Obwohl dort erst 2022 ein Erweiterungsbau für 30 Millionen Euro eröffnet wurde. Aber zurück nach Nürnberg. Sowohl das “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände” als auch die geplante – und in räumliche Verbindung zum “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände” zu bringende – “Zentrale NSU-Gedenkstätte” befinden sich in der Nähe der kilometerlangen, südlich stadtauswärts führenden “Münchener Straße”. Über die Münchener Straße in Nürnberg kann man sagen, was man will, aber eines kann man nicht behaupten: Daß dort nicht massig Platz fürs Gedenkenmachen wäre. Diese ganze, kilometerlange Münchener Straße in Nürnberg ließe sich ohne weiteres in “Allee der Opfergedenkstätten” umbenennen. Massenhaft Gedenkstätten könnte man dort errichten. An der Meisteropferhalle … Meistersingerhalle, ganz in der Nähe des “Platz der Opfer des Faschismus” könnte es losgehen und sich nach Süden hin fortsetzen. Eine Gedenkstätte nach der anderen im Sinne der “Europäischen Einigung in der EU” (EEEU). Mit der umbenannten “Horst-Wessel-Opfergesangshalle” der vormaligen Meistersingerhalle, stadtauswärts auf der rechten Seite der Münchener Straße gleich hinter dem “Platz der Opfer des Faschismus” gelegen, könnte es schon losgehen. Dann käme, etwas zurückgesetzt auf der linken Seite das “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände” mit der räumlich inkorporierten “Zentralen NSU-Gedenkstätte” – und gebaut werden müssten dann, womöglich mit Mitteln aus einem entsprechenden EU-Fonds, die “Gedenkhalle für die Opfer des italienischen Faschismus”, architektonisch angelehnt an den ab 1938 entstandenen, römisch-faschistischen Designer-Stadteil “Esposizione Universale di Roma” (EUR) in Rom. Daran anschließend, ganz im Sinne von “unser Europa” (UEU), das “Dokumentationszentrum für die Opfer der Franco-Diktatur” in Spanien, dann ein Gebäude im skandinavischen Stil: “Zentrale Gedenkstätte für die Opfer von Vidkun Quisling”, räumlich verbunden mit den “EU-Gedenkstätten für die Opfer von Petain und Mussert”, anschließend daran die “Memorial site for the victims of Sir Oswald Mosley”. Auch die Polen sollen nicht zu kurz kommen in der “Alle der Gedenkstätten” zu Nürnberg: “Gedenkstätte für die Opfer von Pilsudski”. Dann ein ganz neumodischer Bau mit aktuellem Bezug: “Gedenkstätte für die Opfer des ukrainischen Bandera-Faschismus”. Für diese Gedenkstätte könnte man übrigens Eintritt verlangen. “Ihre Eintrittsgelder für den Krieg – der Marschflugkörper Taurus ist auch heuer wieder teuer”.

Fahrt nach München: Die globalen Gedenkstätten

Inzwischen müssten wir den Stadtteil Langwasser schon hinter uns gelassen haben und uns auf den Zubringer jener Autobahn zubewegen, welche die Stadt der Reichsparteitage mit der Hauptstadt der Bewegung verbindet. Große weite Welt. Planet, Menschheit, Weltklima und so weiter. Unterzubringen wären dort noch die “Zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Maoismus”, die für die “Opfer des Stalinismus”, dann im japanischen Baustil die “Zentrale Gedenkstätte für die Opfer der asiatischen Verbündeten des Nationalsozialismus” und die “Gedenkstätte für die burischen KZ-Opfer der Briten in Südafrika”.

Entlang der Autobahn nach München, ein bißchen eingequetscht zwischen der ICE-Trasse und der Autobahn, bis etwa auf Höhe des Rhein-Main-Donau-Kanals: “Afrikanische Gedenkstätte für die Opfer von Idi Amin”, die “Gedenkstätte für die Opfer des Völkermordes in Ruanda”, die “Kombinations-Gedenkstätte für die indigenen Opfer der Siedler in Amerika sowie die vietnamesischen, afghanischen, syrischen, libyschen und irakischen Opfer des amerikanischen Bellizismus”, eine für die “Opfer der belgischen Royalisten im Kongo”, dann die “Gedenkstätte für die Opfer von Pol Pot in Kambodscha”. Wir überqueren den Rhein-Main-Donau-Kanal und fahren weiter Richtung München, bis wir kurz vor Ingolstadt bei der “Gedenkstätte für die palästinensischen Opfer der zionistischen Faschisten” angekommen sind. Dort befindet sich auch eine Tankstelle, die ohne großen Aufwand in “Spritplatz der Opfer von Deir Yasin” umbenannt werden könnte. Dort tanken wir nochmal auf, entweder mit “Super Ben Gvir plus” oder mit “Bezalel Smotrich 95”. Bis wir dann in München, der “Hauptstadt der Opfer des Nationalsozialismus” ankommen, passieren wir noch die “Gedenkstätte für die Opfer von Schah Reza Pahlewi”, die “Gedenkstätte für die Opfer von Dschingis Khan”, die “Zentrale Gedenkstätte für die erstochenen und vergewaltigten Opfer der deutschen Migrationspolitik”, die “Gedenkstätte für die Opfer des Islamismus”, die “Gedenkstätte für die Opfer der Briten in Indien”- und ganz groß, kurz bevor wir den Münchener Altstadtring erreichen: Die “Globale Gedenkstätte für die Opfer des menschengemachten Klimawandels” und die “Verschwörungstheoretische Gedenkstätte für die Opfer der mRNA-Impfungen.”

Wir stellen unseren Wagen im “Gedenk-Parkhaus für die Opfer von Zugausfällen, Bahnübergangsunfällen & Bahnsteigschubsereien” am Hauptbahnhof ab und schlendern voll des Gedenkens an alles außer uns selbst hinüber zu jenem Teil des Altstadtrings, der “Platz der Opfer des Nationalsozialismus” heißt. Dort werden wir so richtig nachdenklich, betroffen & dankbar zugleich und falten unsere Hände zum Dankgebet. “Lieber Gott, wir danken Dir, daß wir nicht zu den Bösen gehören müssen, sondern die Guten und Gerechten sein dürfen. Weil wir dadurch so schön Gedenken machen können. Wenn wir Russen oder Palästinenser sein müssten, wäre es gar nicht schön. Erhalte uns den Zustand der reinen Unschuld bis in alle Ewigkeit – und den Chefs der Rüstungskonzerne die Arbeitsplätze. Amen.”

Als richtig gute Gedenkenmacher haben wir natürlich den Bausatz für eine “Tiny Spezial-Gedenkstätte” im Kofferraum und errichten sie schnell noch, bevor wir wieder nachhause fahren. “Gedenkstättchen für alle jene Opfer der Nationalsozialisten, die keine Holocaustopfer gewesen sind”. Dann gedenken wir noch schnell ein bißchen der russischen Kriegsgefangenen, der polnischen Zwangsarbeiter, der Schwulen, der Behinderten und deutschen Dissidenten, keinesfalls aber der Ausgebombten, der Gefallenen, der auf der Flucht aus Ostpreußen Erfrorenen, Ersoffenen, Verhungerten und Erschlagenen, der Rheinwiesenopfer, der Stasiopfer und Mauertoten. Weil wir nämlich die Guten sind. Als solche sind wir Weltmeister darin, so zu tun, als ginge es uns jemals um die Opfer von irgendwem. Es geht uns in Wahrheit immer nur um die Distanzierung unserer eigenen Person von den jeweiligen Tätern. Damit wir uns als die Guten begreifen dürfen, nicht, weil wir es tatsächlich wären.

“Platz der Opfer des Nationalsozialismus”, “Platz der Opfer des Faschismus”, “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände”, “Zentrale NSU-Gedenkstätte”, “Dokumentationszentrum Obersalzberg”: Nichts deprimiert mich allerweil mehr als alles das. Sowohl des innen- als auch des außenpolitischen Zustandes unseres Heimatlandes wegen. Wir unterstützen ein stocktotalitäres Regime in der Ukraine, kuschen vor einem erzfaschistischen und bellizistischen Amerika und suchen nach einer Rechtfertigung für Völkermord und Kriegsverbrechen, wo es keine geben kann, egal, wer als Täter und wer als Opfer in Betracht kommt. Wir sind erneut zu zivilisationsbrüchigen Barbaren verkommen, zu elenden Feiglingen, die noch nicht einmal mehr das Leben ihrer Nächsten, das ihrer eigenen Landsleute nämlich, zu schützen die Eier haben. In Wien wurde eine Zwölfjährige über Wochen hinweg von 17 Jugendlichen aus der Türkei und aus Bulgarien vergewaltigt. In Deutschland sticht ein Migrant auf Grundschulkinder ein. Im Gazastreifen wurden bislang über 12.000 Kinder ermordet – und in Deutschland sucht man nach Rechtfertigungen dafür. In Nürnberg überlegt man sich gar, wie sich die “Zentrale NSU-Gedenkstätte” mit dem “Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände” verbinden läßt. Als ob das noch von Relevanz wäre. Es geht nie um die Opfer, sondern immer nur um die egozentrische Distanzierung von den Tätern. Man bräuchte wirklich viel Humor, um diesen Wahnsinn noch lakonisch mit einem “Spott & Hohn!” zu kommentieren. Ich habe viel Humor, aber es häufen sich die Tage, an denen ich fürchte, er könnte mir ausgehen. Das fürchte ich deswegen, weil ich weiß, daß dann, wenn mir das Lachen vergeht, die Lage verdammt ernst sein muß. Die Sonne der Kultur über meinem Heimatland steht inzwischen verdammt tief. Obwohl der Frühling kommt.

Ich bin vor drei Monaten zum ersten Mal Opa geworden. Wenn ich meinen Enkel anschaue, dieses kleine, zarte und bedürftige Wesen, dem mein ganzes Herz gehört, dann könnte ich nur noch schreien bei dem Gedanken, daß es unter meinen eigenen Landsleuten welche gibt, die nach einer Rechtfertigung dafür suchen, daß ein solches zauberhaftes Menschlein im Gazastreifen einfach ermordet wird oder verhungern muß. Dort sterben aktuell 136 Kinder im Tagesdurchschnitt. Das ist ein extremes Vielfaches dessen, was im Irak, in Syrien oder in Afghanistan zu beklagen war. “Platz der Opfer des Nationalsozialismus” – wir sind die Guten. Ich glaube, mein Schwein pfeift. Die Weigerung, sich mit den eigenen Abgründen auseinanderzusetzen, wird dazu führen, daß man in sie hinabstürzt. In Deutschland: Kollektiv. Nationalsozialismus hin oder her. Brief und Siegel darauf. Nichts stinkt so gotterbärmlich wie die “wertewestliche” Selbstgerechtigkeit. Übrigens: Inzwischen räumt sogar die “New York Times” ein, daß der Schnack von “Putins unprovoziertem Angriffskrieg” realitätswidrig gewesen ist. Ich habe das vor zwei Jahren schon gewußt und niedergeschrieben. Dafür war ich dann das “Putinzäpfchen” und habe Morddrohungen erhalten. In Deutschland. Wo auch sonst?

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