Die Kläger: Südafrikanische Delegation vor dem ICJ in Den Haag am 26.1.2024 - Foto: Imago

Den Haag: Einstweilige Anordnung gegen Israel

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist bekanntlich mit einer Klage Südafrikas gegen Israel befasst. Der Vorwurf lautet auf Völkermord. Das Verfahren läuft. Heute gab es erst einmal eine einstweilige Anordnung des ICJ gegen Israel.

von Max Erdinger

Die “Jüdische Allgemeine” berichtete recht umfangreich vom Tag in Den Haag. “Etappensieg für Südafrika: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat am Freitag eine einstweilige Anordnung gegen Israel erlassen, in der ein Ende der Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen gefordert wird.”, heißt es im Teaser. Und weiter: “Wörtlich heißt es in dem Urteil: ‘Der Gerichtshof kommt auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen zu dem Schluss, dass die in seiner Satzung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen erfüllt sind. Es ist daher erforderlich, dass der Gerichtshof bis zu seiner endgültigen Entscheidung bestimmte Maßnahmen anordnet, um die von Südafrika geltend gemachten Rechte zu schützen, die der Gerichtshof für plausibel hält.’ “ Die Rechtmäßigkeit des israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen wurde vorläufig nicht bestritten.

Das “Redaktionsnetzwerk Deutschland” in berüchtigter Manier auf “X”:

RND Den Haag
RND-Tweet auf “X” – Screenshot Google

Das sind Fake-News. Mitnichten hat der “Internationale Gerichtshof” bereits entschieden, ob eine Verletzung der Völkermordkonvention durch Israel vorliegt. Das Hauptverfahren läuft noch. Die Entscheidung darüber steht noch aus. Allerdings gibt die einstweilige Anordnung vom heutigen Tage einen deutlichen Hinweis darauf, wie das Urteil letztlich ausfallen könnte. Israel muß die palästinensische Zivilbevölkerung schützen, hieß es am heutigen Tage in Den Haag. Das impliziert, daß sie bislang eben nicht geschützt worden war. Es gibt die Internationale Völkermordkonvention und die Zahlen der im Gazastreifen ermordeten Zivilisten. Es geht inzwischen um mindestens 25.000 ermordete Zivilisten im Gazastreifen, etwa 70 Prozent davon Frauen und Kinder. Weitere 8-10.000 sollen unter den Ruinen der bombardierten Häuser im Gazastreifen verschüttet worden sein. Zudem werden im Gazastreifen durch die gezielte Zerstörung der Infrastruktur die Lebensgrundlagen der Palästinenser dauerhaft beseitigt. Wer lesen kann, weiß auch ohne den Internationalen Gerichtshof, wann die Kriterien für Völkermord erfüllt sind. Was gibt es also im Text der Völkermordkonvention zu lesen? – Das hier:

Nach Artikel II versteht man darunter, die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe begangenen Handlungen:

– a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
– b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
– c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
– d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
– e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Diese Handlungen müssen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Es macht sich also schon jemand des Völkermordes schuldig, der lediglich beabsichtigt, also den Vorsatz hat, eine Menschengruppe zu vernichten. Ist eine der Taten von Artikel II a bis e der Konvention tatsächlich durchgeführt worden in Vernichtungsabsicht, dann ist es unerheblich, ob oder wie viele Mitglieder der Gruppe wirklich vernichtet worden sind. Letztendlich braucht man für die Strafbarkeit das „Ziel“ nicht erreicht zu haben.

Die “Jüdische Allgemeine”:

Der Staat Israel müsse, so die Anordnung des Gerichtshofs, ‘in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Bezug auf die Palästinenser im Gazastreifen alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung aller in den Anwendungsbereich von Artikel 2 dieses Übereinkommens fallenden Handlungen zu verhindern. Dazu gehören laut Gericht ‘insbesondere: die Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe; die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf gerichtet sind, die physische Zerstörung der Gruppe herbeizuführen, und die Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern.’

Die “Amaleks”

Wer wohnt im Westjordanland und im Gazastreifen, dem “größten Freiluft-KZ der Welt” (Ray McGovern)? – Klar, es sind Palästinenser. Das können Moslems, Islamisten oder Christen sein, Terroristen, Zivilisten, Alte, Kranke, Frauen und Kinder, Politische und Apolitische und so weiter. Es gibt aber unwiderlegbare Beweise dafür, daß Mitglieder von Netanyahus Regierung – und Netanyahu selbst – von “Amaleks” geredet haben. Der Begriff stammt vom Volk der “Amalekiter”, den biblischen Erzfeinden der Israeliten.

Über die “Amalekiter“:  “Für gewöhnlich wird in Amalek ein im Negev umherziehender Nomadenstamm vermutet (…) Mit Ausnahme einer kurzen Notiz über die Verwüstung des Gebiets der Amalekiter durch einen Zusammenschluss von Königen (Gen 14,7 EU), sind die Amalekiter in Ex 17,8–16 EU zum ersten Mal von Bedeutung. Nach seinem Auszug aus Ägypten griff Amalek Israel in Refidim an. Mose übertrug Josua, dem Sohn Nuns, die militärische Führung im Kampf, während er selbst die Hände zum Gebet erhoben hielt. (…) “Solange Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker; sooft er aber die Hand sinken ließ, war Amalek stärker.” (…) Die Erzählung gipfelt in einer göttlichen Zusage der Vernichtung der Amalekiter: „Denn ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen.“ (Ex 17,14 EU) (…) Das Amalekitergesetz in Dtn 25,17–19 EU nimmt die Vernichtungszusage aus Ex 17,14 EU auf und überführt sie in einen Auftrag, das Volk der Amalekiter auszurotten, wenn Israel nach der Landgabe Frieden gefunden hat. Begründet wird das Gebot mit dem Angriff der Amalekiter während der Wüstenwanderung. Die Verwerfung Sauls in 1 Sam 15,18 f EU hat ihre Ursache in der Missachtung dieses Gebots insofern, dass er zwar an den Menschen den Bann vollziehen ließ, d. h. “Mann und Frau, Kinder und Säuglinge” getötet wurden (…) In der jüdischen Überlieferung sind verschiedene Personen, die sich durch besondere Feindschaft gegenüber den Juden hervorgetan haben, dem Stamm Amalek zugeordnet worden. Dazu zählen zum Beispiel der Kosakenführer Bohdan Chmelnyzkyj (1595–1657) sowie Adolf Hitler. Die Nationalsozialisten galten prominenten Juden, so zum Beispiel Simon Dubnow, Arthur Szyk und Raul Hilberg, als Amalekiter. Solche Überlieferungen hängen mit Vorstellungen über Reinkarnation zusammen, die auf Hebräisch Gilgul genannt wird (wörtlich: „Rollen“, hier der Seele). Einige Rabbis gehen sogar so weit, bestimmte Völker mit den Amalekitern zu identifizieren, wie beispielsweise der Gaon von Wilna, auf den sich Rabbi Joseph Chaim Sonnenfeld berief, als er sich 1898 weigerte, Kaiser Wilhelm II. bei seinem Palästinabesuch zu begrüßen, da die Deutschen von den Amalekitern abstammten. Rabbi Joseph Ber Soloveitchik und andere Rabbiner lehren, dass alle Judenhasser von der Saat Amaleks stammten, so die Nationalsozialisten, die Sowjets, Nasser und der Mufti. Wiederum andere, wie Rabbi Jack Riemer, sehen in islamischen Fundamentalisten Amalekiter. Rabbi Shammai Engelmayer bezeichnete den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Russischer Überfall auf die Ukraine 2022 als Nachahmung Amaleks (…) 1974 wurden die Palästinenser als Volk erstmals mit Amalek gleichgesetzt, die Bezeichnung erfolgte durch Rabbi Moshe Ben-Tzion Ishbezari aus Ramat Gan 1974. 1980 schloss sich Rabbi Israel Hess dieser Ansicht an. Hess war Rabbi am Campus der Bar-Ilan-Universität und veröffentlichte im Februar 1980 einen Artikel mit dem Titel „Die Aufforderung zum Völkermord in der Torah“. Nach dem Tode Jassir Arafats wurde dieser von 200 Rabbis aus Piqquach Nefesch als „Amalek unserer Generation“ bezeichnet und der Vorschlag gemacht, seinen Todestag als Freudentag zu feiern. Der jüdisch-rechtsextreme Terrorist Baruch Goldstein, der am 25. Februar 1994 in Hebron bei einem Massaker in der Abraham-Moschee 29 Palästinenser tötete und 150 verletzte, rechtfertigte seine Tat unter anderem damit, dass er die Palästinenser als Amalekiter der Gegenwart betrachtete. Robert Eisen, Professor für Judaistik an der George Washington University in Washington D.C, befand, dass die Neigung rechtsnationaler israelischer Siedler, die Palästinenser mit den Amalekitern zu identifizieren, mitunter für diese tödliche Konsequenzen habe. (…) Während des Israel-Gaza-Krieges ab 2023 wurden die Palästinenser bzw. die Hamas seitens israelischer Politiker und Medien vielfach mit den Amalekitern gleichgesetzt. Einige der Aussagen wurden als „Völkermordabsichten gegen das palästinensische Volk“ in einer Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof gewertet. (…) In einer Rede am 28. Oktober 2023 bezeichnete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Hamas als eine Wiederholung der biblischen Amalekiter. Netanjahu zitierte aus dem Alten Testament Deuteronomium 25,17: „Du sollst daran denken, was Amalek dir angetan hat.“, wobei er die nachfolgenden Passagen, die zur Ausrottung der Amalekiter aufrufen (Vers 19, „Du sollst das Andenken an Amalek unter dem Himmel auslöschen. Vergiss nicht!“), ausließ. Joshua Krug kritisierte Netanjahu dazu im Jewish News in Northern Carolina scharf: es sei taktisch, strategisch und moralisch falsch, die Hamas mit Amalek gleichzusetzen. Das Wort, das im heutigen Sprachgebrauch dafür steht, was der antike Text befiehlt, sei „Völkermord“. Netanjahus Sprachwahl sei „zynisch, manipulativ und gefährlich in einer Zeit des Krieges, in der Menschen weltweit seinen Worten zuhören und diese als Munition für die Behauptung hinzufügen, dass Israel einen Völkermord begehe.“ Der israelische Genozidforscher Omar Bartov bezeichnete Netanjahus Aussage, sowie ähnliche Aussagen ranghoher israelischer Politiker als „im Kern genozidal“. Nachdem Südafrika im Januar 2024 Israel vor dem Internationalen Gerichtshof des Völkermordes in Gaza beschuldigte und in der Klageschrift Netanjahus Amalek-Aussage als Aufruf zum Genozid auslegte, ließ Netanjahus Büro im Januar 2024 verkünden, dass diese „falsche und lächerliche Behauptung“ von „großer historischer Unwissenheit“ zeuge.

Am 16. Oktober behauptete Boaz Bismuth, Mitglied der rechtsnationalen Likud-Partei und Abgeordneter in der Knesset, in einem Beitrag auf X, vormals Twitter, dass die Zivilbevölkerung in Gaza aktiv sich an Taten der Hamas vom 7. Oktober beteiligt habe. Bismuth erklärte: „Es ist verboten, grausamen Menschen Barmherzigkeit zu erweisen, es gibt keinen Platz für irgendeine humanitäre Geste – die Erinnerung an Amalek muss protestiert werden!“

Mitte Dezember 2023 bestätigte die israelische Armee die Echtheit eines am 7. Dezembers publizierten Videos, in dem Dutzende israelische Soldaten sangen: „Wir kennen unser Motto: es gibt keine unbeteiligten Zivilisten (in Gaza)“ und dass sie (die Soldaten) „die Saat Amaleks tilgen werden“. Die Armeeführung teilte mit, dass das Verhalten der Soldaten nicht im Einklang mit den Werten der israelischen Armee stünde.

Die Israel National News schrieb am 15. Oktober 2023 in einem Artikel: „Amalek hat wieder sein Haupt erhoben, und dies ist die Botschaft, was wir ihnen antun sollen, wie es in 1. Samuel, 15 in Übereinstimmung mit Devarim 25 geschrieben steht. Lasst dies eine Warnung – und eine Richtlinie – für unsere Führer sein, die uns schon viel zu lange im Stich gelassen haben.“ Es folgte die biblische Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Samuel und Saul vor dem Hintergrund von Samuels Völkermordbefehl an den Amalekitern.

Aviel Schneider, Redakteur des deutschsprachigen israelischen Online-Mediums Israel Heute, setzte die Hamas mit Amalek gleich, und fragte, warum man sie nicht vernichten dürfe, wenn Gott doch die Ausrottung Amaleks geboten habe. Ryan Jones schrieb in einem Artikel desselben Mediums: „Israel ist endlich bereit, Amalek zu vernichten, aber die Christen (die USA und Europäer) lassen es nicht zu.“

Amalek-Begriff in der Klage gegen Israel wegen Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof

Ende Dezember 2023 erhob Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel Anklage wegen „Völkermordes“. In der 84-seitigen Klageschrift werden Äußerungen israelischer Politiker, Staatsbeamter und anderer als Belege für „Völkermordabsichten gegen das palästinensische Volk“ gewertet. Hierbei aufgeführt werden auch Zitate die den Amalek-Begriff enthalten, darunter die Aussage von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom 28. Oktober 2023, die Aussage von Boaz Bismuth vom 16. Oktober 2023 und das Video vom 7. Dezember 2023, in dem israelische Soldaten sangen, „wir kennen unser Motto: es gibt keine unbeteiligten Zivilisten (in Gaza)“ und dass sie „die Saat Amaleks tilgen werden.“

Schlußfolgerung

In Israel haben in den vergangenen Jahren die sogenannten “religiösen Zionisten” erheblichen Zulauf verzeichnet. Daß die sich als “Gottes auserwähltes Volk” begreifen, denen das Land (Eretz Israel – “Großisrael”) von Gott selbst versprochen worden war, ist ein alter Hut. Mit den international anerkannten Staatsgrenzen Israels haben die herbeiphantasierten Grenzen eines “Eretz Israel” aber nichts zu tun. Zugleich hängt aber am Verbleib der religiösen Zionisten in Netanyahus Regierungskoalition das persönliche Schicksal des unter Korruptionsanklage stehenden Premiers Netanyahu selbst. Platzt die Koalition, ist Netanyahu nicht länger mehr Premier – und ist er nicht länger mehr Premier, platzt auch seine Immunität vor Strafverfolgung. Netanyahu und seine Ehefrau hätten langjährige Haftstrafen zu erwarten. Liest man nun den Text der Internationalen Völkermordkonvention aus dem Jahr 1948 und gleicht ihn mit dem Geschehen im Gazastreifen ab, dürfte kein Weg mehr daran vorbeiführen, das Vorgehen der Israelis im Gazastreifen als Völkermord zu klassifizieren. Wenn man dann noch das Gerde von den “Amaleks” hinzunimmt, dann dürfte auch der Vorsatz zum Völkermord schwerlich zu widerlegen sein. Verdächtig dürfte in diesem Zusammenhang auch die Weigerung der religiösen Zionisten um Itamar Ben-Gvir (Minister für Nationale Sicherheit) und Bezalel Smotrich (Finanzminister) sein, einer unabhängigen Untersuchung der IDF zum Versagen des “besten Sicherheitskonzepts der Welt” am 7. Oktober 2023 ihren Segen zu geben. Jedoch: Dürfte, Konjunktiv. Es wäre schon blauäugig, zu unterstellen, daß sich der Internationale Gerichtshof nach den Buchstaben der Internationalen Völkermordkonvention, den Tatsachen im Gazastreifen sowie dem ubiquitären “Amalek”-Schnack zur Rechtfertigung der israelischen Ungeheuerlichkeiten richten wird. Ganz auszuschließen ist das zwar nicht, aber der Internationale Gerichtshof wird sich schon selbst in einer Art Zwickmühle sehen. Meinereiner rechnet daher mit einem “salomonischen Urteil” zum Ende des laufenden Verfahrens wegen Völkermordes, mit einem Urteil also, das den Internationalen Gerichtshof selbst in der israelfreundlichen “Westwertewelt” als Angriffsobjekt außen vorlassen wird. Das wird aussehen wie: “Völkermord … ja, schon … aber allerdings und dennoch und außerdem …”. Möge ich mich täuschen mit meiner Prophezeiung. Möge Israel vor dem Internationalen Gerichtshof ohne Wenn und Aber des Völkermordes überführt werden. Denn das ist genau das, was die israelische Regierung im Augenblick durchführt. Wer die Völkermordkonvention lesen kann und über die infernalischen Zustände im Gazastreifen Bescheid weiß, ist klar im Vorteil.

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