Eine der am Tatort sichergestellten Tatwaffen (Foto:Imago)

Terror in Moskau: Eine Zwischenbetrachtung

Jegliche Aussagen über die vermeintlich “offensichtlichen” Hintergründe des Terrors von Krasnogorsk bei Moskau, wo der barbarischen Attacke auf die Konzerthalle Crocus City Hall gestern Abend mehr als 130 Menschen zum Opfer fielen, sind zum derartigen Zeitpunkt zwangsläufig spekulativ und verfrüht. Auch wenn jeder meint, entsprechend seiner “Schlagseite” und Prädisposition zum Ukraine-Russland-Konflikt eine plausible Erklärung parat zu haben und die “Insider”, “Experten” und Auguren der Wahrheit hüben wie drüben meinen, über Zirkel- und Rückschlüsse – und fast immer im Zustand der Inferenz (cui bono?) – die wirklichen Schuldigen zu kennen, ist es eine Tatsache, dass selbst bei noch so differenzierter und unvoreingenommener Breitbandanalyse aller Mainstream- und Alternativmedien und verfügbarer Quellen schlechterdings keine Gewissheit möglich ist. Dass jede Seite sogleich versucht, den Terror für sich zu vereinnahmen, ist eine erwartbare Trivialität. Daher an dieser Stelle nur einige persönliche Gedanken:

  • Auch wenn es sich im aufgewiegelten und maximalpolarisierten Westen inzwischen kaum einer mehr vorstellen mag: In Russland gibt es innenpolitisch auch noch andere Probleme, Spannungen und Themen als die Ukraine, und auch 15 Jahre nach Ende des letzten Tschetschenienkrieges ist der Islamismus sicherheitspolitisch eine Herausforderung für das Land. Die Parallelen zum Anschlag tschetschenischer Separatisten auf das Moskauer Dubrowka-Theater 2002 sind in der Tat frappierend: Auch damals war ein Konzertsaal in Moskau das Ziel, auch damals kamen – wenn auch teils durch den unzulänglichen Gaseinsatz russischer Spezialtruppen – fast exakt ebenso viele Opfer ums Leben wie gestern, und auch damals führte der Terror zu einer Eskalation des Tschetschenienkrieges (ohne dass Putin vom Westen damals eine “Instrumentalisierung” angelastet wurde).

Unterschiedliche denkbare Szenarien

  • Der IS hat zwei fortwährende Motive, gegen Russland zu agitieren, und hat diesbezüglich auch schon wiederholt gedroht: Zum einen ist in Afghanistan der IS-Ableger Islamischer Staat Khorasan-Provinz (ISKP) der erbittertste Feind der in Kabul regierenden Taliban. Da Putin die Taliban massiv unterstützt, ist Russland erklärter Feind des ISKP. Zum anderen hat der IS Russland den Bombenkrieg an der Seite Assads nicht vergessen, als Putins Luftwaffe in Syrien Dschihadisten und IS-Kämpfer reihenweise eliminierte. So zu tun, als seien all diese Feindseligkeiten hinter dem Ukraine-Krieg zurückgetreten und es müsse sich bei der IS-These um eine an den Haaren herbeigezogene westliche Propagandalüge handeln, zeugt von Realitätsblindheit.
  • Eine andere Frage indes ist die, ob dann, wenn gestern in Krasnogorsk wirklich ein IS-Anschlag verübt wurde, die Terroristen nicht von der einen oder anderen Seite vor den Karren gespannt wurden. Dass die Ukraine – die gerade erst im Frontgebiet ihre Kooperation mit russischen Anti-Kreml-Widerstandsgruppen verstärkte – nach dem Motto “wer immer Russland schadet, ist unser Partner” strategisch in einen solchen Anschlag eingebunden war und etwa bei der In- und geplanten Exfiltration  der Täter behilflich war, ist absolut plausibel und im Lichte früherer ukrainischer Geheimdienstaktionen (der inzwischen von der Ukraine eingestandene Autobomben-Mord an der russischen Journalistin Darja Dugina 2022, oder auch die zumindest niederschwellige Verwicklung in die Nord-Stream-Sprengung) auch nicht abwegig. Dass die gestrigen Täter auf Fluchtrouten Richtung Ukraine gefasst wurden, würde dazu passen.

Absichtsvolles Geschehenlassen?

  • Wiederum könnte eben das taktische Zusammengehen von Anti-Kreml-Widerstandskämpfern und ukrainischen Truppen sowie destabilisierende Ermüdungserscheinungen im dritten Kriegsjahr den IS oder separatistische Terrorgruppen ermutigt haben, nun ihrerseits in Russland auf völlig eigene Rechnung loszuschlagen. Die Wiederwahl Putins ohne auch nur ansatzweise aussichtsreiche Gegenkandidaten könnte dabei den letzten Ausschlag gegeben haben.
  • Ebenso denkbar indes wäre, dass Russland von den Planungen – ob nun einschließlich einer etwaigen ukrainischen Beteiligung oder ganz ohne eine solche – wusste und diese im Rahmen eines LIHOP (“let it happen on purpose“) geschehen ließ, um nun daraus eine möglicherweise neue Etappe des Krieges in der Ukraine abzuleiten. Die heutigen Schuldzuweisungen und Vergeltungsankündigungen des russischen Präsidenten passen ebenso hierzu wie die Meldung, dass westliche Geheimdienste Russland vor islamistischen Anschlägen seit längerem gewarnt haben sollen, was vom Kreml jedoch ignoriert wurde.

Nuklearer Schlagabtausch könnte näherrücken

  • Schließlich wäre es auch nicht abwegig, dass Ukraine und der “Wertewesten” im Zuge einer klandestinen Doppelstrategie tatsächlich ihre Finger im Spiel hatten bei dem Anschlag, sei es durch Planung, Vorbereitung oder logistische Unterstützung, und so auf “hybride” Weise durch “assymetrische” Guerilla-Kriegsführung eben das umsetzten, was der CDU-Kriegstreiber Roderich Kiesewetter vor drei Wochen ganz ungeniert gefordert hatte: den Krieg nach Russland zu tragen.
  • Die Folgen der militärischen Eskalation, sollten sich derartige Mutmaßungen tatsächlich bewahrheiten, wären dann allerdings unabsehbar und der “Shortcut” zu einem nuklearen Schlagabtausch würde erheblich verkürzt. In den Kommandoständen der wohlstandsverwahrlosten, ex-pazifistischen deutschen Etappenhasen bei Grünen, Union und FDP, die in ihrem Maulheldentum den nächsten großen Krieg offenbar nicht abwarten können, scheint man das bereits eingepreist zu haben.

Unterirdische Schadenfreude auch in Deutschland

Wie gesagt: Es ist derzeit alles mehr Kaffeesatzleserei als belastbare Analyse. Zur Stunde bleibt derzeit alles müßige Spekulation, wir müssen uns gedulden – und wenn es brenzlig wird, dann kann es sehr schnell gehen. Vielleicht so schnell, dass wir die wahren Hintergründe nicht erfahren, bevor wir die Radieschen von unten erblicken.

Ungeachtet dessen, wer nun Verantwortung für das gestrige Blutbad trägt: Ganz uns gar widerlich und abstoßend sind die entlarvenden Reaktionen eines in über zwei Jahren antirussischer Stimmungsmache maximalverhetzten pseudomoralischen Milieus im Westen, das mit seiner Häme und Schadenfreude über den Terror nicht hinterm Berg hält. “Russland” bekäme die eigene Medizin zu schmecken, heißt es da. Also nicht die unschuldigen Frauen, Männer und Kinder also, die gestern einen entspannten Konzertabend genießen wollten und in Stücke geschossen wurden – nein, ganz “Russland“). Eiskalt-zynisch werden da die gestrigen Terroropfer gegen ukrainische Kriegsopfer aufgerechnet; gewitterter Hass triggert Likes, Thumbsup und zustimmende Kommentare. In einem Post hieß es etwa: “Russland verletzt das Völkerrecht, es verletzt die Menschenrechte, es verletzt die Genfer Konventionen, es vergewaltigt Frauen und deportiert Kinder. Tatsächlich gibt es nichts, wogegen Russland nicht verstößt. Das russische Volk hat einen Kriegsverbrecher mit 87 % der Stimmen erneut zum Präsidenten gewählt. Währenddessen brennt Moskau und es ist schwierig, auch nur einen Hauch von Mitgefühl zu empfinden.” Die Propaganda hat ganze Arbeit geleistet: Nur ein toter Russe ist ein guter Russe. Wieder mal. (DM)

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