Wladimir Putin - Foto: Imago

Russland: Was ist da los und weshalb?

Der russische Präsident Wladimir Putin hat inzwischen die weltweit mit Spannung erwartete Ansprache zum Putsch des PMC-Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin gegen die russische Militärführung gehalten. Er verurteilt diesen Putsch auf das schärfste und verspricht, ihn unter allen Umständen niederzuschlagen. Es handele sich um einen Dolchstoß Prigoschins in den Rücken Russlands. Was wird passieren?

von Max Erdinger

In Kiew dürften die Sektkorken knallen und sämtliche Popcorn-Tüten geöffnet worden sein. Die kampfbewährte und überaus verdienstvolle Söldnerarmee von Jewgeni Prigoschin, die berüchtigte “Wagner-Gruppe”, hat sich aus der Befehlskette der russischen Militärführung ausgeklinkt und marschiert zur Stunde noch aus dem Raum Rostow am Don kommend in Richtung Moskau. Man fragt sich, ob Prigoschin den Verstand verloren hat. Unterstellt, daß er ihn nicht verloren hat – was dann?

Elon Musk postet diesen kurzen, sehr treffenden Tweet: “Vertraue niemandem, nicht einmal dir selbst.”

Musk Russia
Musk-Tweet – Screenshot Twitter

Während man im Kreml von einem Putsch redet, von einer Ausgeburt an Landesverrat, die unter allen Umständen niedergeschlagen werden wird, spricht Prigoschin selbst von einem patriotischen “Marsch für Gerechtigkeit” und beteuert, nie und nimmer richte sich sein Putsch gegen Russland, sondern gegen eine – seiner Ansicht nach – unfähige Militärführung, namentlich gegen Verteidigungsminister Shoigu und den Chef der Streitkräfte, Gerassimow. Der Zwist zwischen Prigoschin und der russischen Militärführung schwelt schon länger und Wladimir Putin ließ ihn schwelen, offensichtlich deswegen, weil er es sich mit keiner der beiden Seite verderben wollte – und weil Prigoschin mit seiner Söldnerarmee unbestreitbar Erfolge vorzuweisen hatte.  Auch bei der offiziellen russischen Armee stehen Prigoschin und seine Söldner inzwischen in einem legendären Ruf. Die Wagner-Gruppe treffe bei ihrem Marsch Richtung Moskau auf keinerlei militärischen Widerstand der russischen Armee, heißt es in Verlautbarungen der “Wagner-Gruppe”. Vielmehr schlössen sich Einheiten der russischen Armee ihrem Marsch an. Die Frage ist also, mit wieviel Unterstützung aus der russischen Staatstruppe der Chef der Söldnerarmee tatsächlich rechnen kann. Wenn es wenig ist, hat er heute bereits verloren und sein persönliches Schicksal ist besiegelt. Seinem 25.000-Mann-Privatheer steht eine russische Militärstreitmacht von inzwischen 1,5 Millionen Mann gegenüber. Das ist im Moment die Frage: Wie groß ist die Unterstützung, die Prigoschin tatsächlich in der regulären russischen Armee hat? Jedenfalls hatte Prigoschin am heutigen Tag noch die Eier, ein Gespräch mit Verteidigungsminister Shoigu einzufordern, ganz so, als sei er der Ansicht, er habe noch etwas zu fordern, das berücksichtigt zu werden hat.

Vor wenigen Tagen bezeichnete Prigoschin Wladimir Putin selbst als “vollendete Arschgeige”. Es fragt sich also, ob Putin so genau wusste, daß er den Putsch würde niederschlagen können, als er heute behauptete, genau das werde ganz ohne Zweifel geschehen. Risiko: Gelingt es ihm nicht, dann war es das mit seiner Präsidentschaft und Gott weiß, wer ihn beerben würde und was das dann in Sachen Ukrainekrieg und russischer Staatlichkeit bedeutet.

Der Streit an der Oberfläche

Jewgeni Prigoschin war wütend in den vergangenen Tagen. Er fühlte sich selbst und seine Söldner als von der russischen Militärführung verraten. Es werde ihm nicht genügend Munition geliefert, monierte er. Seine Söldner stürben mangels Munition einen unnötigen Tod – und die siegreichen Wagner-Kämpfer hätten ihre Gefallenen nicht deswegen für die russische Sache hingegeben, um ihre hart erkämpften Siege durch die Zögerlichkeit einer russischen Militärführung entwürdigen zu lassen, die dem Kriegsgegner Gelegenheit gibt, sich zu erholen, zu regruppieren, sich aufzumunitionieren, und nur, um den Kampf um bereits verlorene Gebiete wieder aufzunehmen. Prigoschin vertritt die Ansicht, daß der Druck auf die ukrainischen Streitkräfte mindestens aufrechterhalten, besser aber sogar massiv erhöht werden müsste.

Unbestreitbar ist es so, daß Prigoschin bei seinen Männern ist. An der Front war Prigoschin die ganze Zeit mit dabei. Shoigu und Gerassimow hingegen sind klassische Militärstrategen, die weit weg von der Truppe ihre Pläne schmieden. Es handelt sich um einen unüberbrückbaren Mentalitätsunterschied, der zwischen der Söldnerarmee Prigoschins und der regulären russischen Armee liegt. Seit Jahren wird berichtet, daß der einzelne Soldat in der regulären russischen Armee wenig gilt und hauptsächlich eine statistische Größe darstellt, sowie, daß er seine individuellen Rechte als Soldat nur ziemlich theoretisch hat, praktisch aber nie. Ein ganz anderes, fast familiäres Klima, herrscht hingegen bei der “Wagner-Gruppe”. Dort befinden sich viele, die ihre Verpflichtung in Prigoschins Armee als letzte Bewährungschance erhalten hatten. Sie wurden z.T. aus russischen Gefängnissen heraus rekrutiert mit dem Versprechen, daß sie sich rehabilitieren könnten. Auch wenn sie fallen, gelten sie als rehabilitiert insofern, als daß ihre Familien, über die sie vorher Schande und Herzeleid gebracht hatten, von Prigoschin versorgt werden. Nach allem, was man dazu lesen konnte, beruhte der militärische Erfolg der “Wagner-Gruppe” nicht zuletzt auf der unbedingten Bereitschaft, sich gegenseitig am Leben zu erhalten. Es soll sich um so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft handeln, in der sich der eine unbedingt auf den anderen verlassen kann, wo auch der Einzelne vor den Anderen seinen Mut unter Beweis stellen möchte – und wo es im Gegensatz zur regulären russischen Armee so etwas wie menschliche Wärme und ein “Nest” gibt, eine Art “Familie”, vom je persönlichen Schicksal der Einzelnen zusammengeschweißt.

Das führt zu folgender Vermutung: Wenn dieser Mythos, von dem die “Wagner-Gruppe” – und damit Prigoschin als Chef – lebt, deswegen lädiert wird, weil die Söldnerarmee mangels Unterstützung nicht das sein kann, was sie in ihrer Eigenwahrnehmung gerne wäre, sprich: wenn sie ihren eigenen Mythos nicht leben kann, weil die eigene Großartigkeit nicht aus sich heraus eine ist, sondern an der Unterstützung genau derjenigen russischen Militärführung hängt, deren Truppen gegenüber man sich eigentlich überlegen fühlt, dann ist das im wahrsten Sinn des Wortes “geschäftsschädigend” für Prigoschin. Das könnte seine veröffentlichten Wutreden erklären. Er nimmt es persönlich. Für Prigoschin zahlt sich das Image der “Wagner-Gruppe” aus. Die Folge wäre außerdem, daß die Motivation innerhalb der “Wagner-Gruppe” sinkt, was es in Zukunft erschwert, auf dem alten Niveau weiterzumachen. Shoigu und Gerassimow hingegen dürfte der Elitenmythos, der sich um die “Wagner-Gruppe” herum gebildet hat, durchaus sauer aufgestoßen sein, führte er ihnen doch die Unzulänglichkeiten desjenigen Systems, in dem sie selbst maßgebliche Zahnräder sind, ein ums andere Mal vor Augen. Wenn Prigoschin also “Sabotage” schreit und wütend mit den Füßen aufstampft, dann wäre das durchaus nachvollziehbar. In dem Fall hätte es Putin mit konkurrierenden Primadonnen innerhalb des russischen Gesamtmilitärs zu tun, mit einem militärischen Zickenkrieg sozusagen. Daß er sich der erhaltungswürdigen Staatlichkeit Russlands wegen in einem solchen Zickenkrieg auf die Seite Shoigus und Germassimows stellen muß, ist klar, auch wenn er das auf einer persönlichen Ebene vielleicht sogar bedauert.

Prigoschins Patriotismus

Nun ist es trotz aller Beteuerungen Prigoschins, was seinen russischen Patriotismus betrifft, dennoch so, daß er eine Privatarmee unterhält, eine Söldnerarmee – und daß Söldner im allgemeinen nicht für irgendwelche Überzeugungen oder politische Ziele kämpfen, sondern für möglichst viel Geld. Ist Prigoschin etwa gekauft worden? Von wem? Und was müsste ihm erzählt worden sein,damit er an den Erfolg seines Putsches glaubt?

Auffällig sind ein paar Äußerungen Prigoschins aus den vergangenen Tagen. So hatte er unter anderem behauptet, die ganze SMO ab dem 24. Februar 2022 sei im Grunde eine Schnapsidee gewesen, eine Überreaktion, durch nichts gerechtfertigt, weil zu keiner Zeit die Gefahr eines ukrainischen Angriffs auf Russland bestanden habe. Das ist richtig, wenn man die Betonung auf “ukrainischer Angriff” legt. Ersetzt man die Phrase aber durch “amerikanischer Angriff vermittels der ukrainischen Armee”, dann ist die Behauptung, es habe kein Angriff auf Russland bevorgestanden, eine ziemlich dreiste Lüge. Im kollektiven Westen – hier in den USA – wurde ein Angriff auf Russland in einer Menge von Strategieentwürfen bereits seit der Mitte der Neunziger Jahre ins Auge gefasst, beschrieben z.B. in “The Grand Chessboard” von Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten gewesen ist. Die Zerschlagung Russlands in einzelne, von einander unabhängige Republiken ist in den USA ein Thema, an dem seit dreißig Jahren getüftelt wurde. Daß das konkrete Formen annimmt, wurde vor den Augen der ganzen Welt ab dem Maidan-Putsch zur Jahreswende 2013/2014 sichtbar, als eine gewählte Regierung mit Hilfe der USA und der EU weggeputscht wurde, um sie durch eine amerikahörige Marionettenregierung zu ersetzen. Ab da ging dann auch der Krieg gegen die ethnischen Russen in der Ukraine los, gepaart mit einer beispiellosen Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die NATO, ihre de facto-Einbindung in die NATO-Kommandostruktur, die Entsendung einer Vielzahl “militärischer Berater” in die Ukraine, die Übernahme wichtiger Staatsämter durch westliche Ausländer usw.usf.

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Jewgeni Prigoschin (62), Chef der “Wagner-Gruppe” – Screenshot “BILD”

Prigoschins Behauptung, es habe kein ukrainischer Angriff auf Russland bevorgestanden, spekuliert offensichtlich mit der Naivität seiner Adressaten. Der Kreml kann also als Adressat nicht gemeint gewesen sein. Dort hat sich niemand Illusionen darüber gemacht, was die USA und ihr hinterherdackelnder “Wertewesten” im Schilde führen. Aber zurück zum Wesen des Söldners in einer Privatarmee.

Westliche Werte in der Ukraine

Daß sich die USA und die NATO angesichts der militärischen Assichtslosigkeit auf einen Sieg gern aus dem Ukrainekrieg verabschieden würden, ist kein Geheimnis mehr. Nur weiß niemand, wie er es hindrehen soll, ohne hernach dazustehen wie ein Depp. Und vor allem will hinterher niemand dastehen als derjenige, der schuld daran ist, daß westliche Vermögenswerte in der Ukraine in unvorstellbarem Ausmaß verloren gegangen sind, weil die Russen gewonnen haben. Dieser Tage wurden Zahlen bekannt. Die ach-so-souveräne und unabhängige Nation Ukraine gehört physisch praktisch westlichen Größtkonzernen. Die Vermögenswerte inklusive der Bodenschätze, die gerade im Donbass lagern und auf ihre Erschließung warten, belaufen sich auf sagenhafte 2.500 Milliarden US-Dollar. 17 Millionen Hektar der weltbesten Ackerböden befinden sich bereits im Besitz von Cargill, DuPont und Monsanto – und damit indirekt auch im Besitz von BlackRock und den zehn größten Banken an der Wallstreet in New York. Man müsste sich also nicht wundern, wenn sich in den USA jemand Gedanken darüber gemacht hätte, wie man das alles wenigstens zum größten Teil retten könnte, obwohl man es militärisch nicht hinbekommen wird. Es erscheint also folgende Spekulation aus “wertewestlicher” Sicht nicht ganz unlogisch:

  1. Feststellung: Das Problem ist eigentlich nicht Russland, sondern Putin. Der blockiert einfach alles, was uns gefallen würde. Was war doch der Jelzin für ein angenehmer Zeitgenosse.

  2. Festellung:  Da wir nicht so einfach gegen Russland in den Krieg ziehen können, – wie wäre es dann damit, dem russischen “Freiheitskämpfer” Prigoschin dabei zu helfen, seinen “partriotischen Kreuzzug” gegen den bösen Diktator Putin zu gewinnen? Dann könnten wir den Russen sogar erzählen, wir täten es zum Zwecke ihrer Befreiung. Der Chodorkowski und der Nawalny helfen uns  ganz bestimmt bei der Verbreitung des Schnacks. Das würde ganz formidabel zu unserem bestens eingeführten Geschwätz von der Demokratie, der Freiheit und den sagenhaften “westlichen Werten” passen. Und wir könnten hinterher behaupten, wir seien seit jeher Russlands wahre Freunde gewesen. – Möchte vielleicht mal jemand mit dem Herrn Prigoschin telefonieren? Es geht um 2.500 Milliarden allein in der Ukraine. Vielleicht gibt er sich mit 50 zufrieden plus der Aussicht, weiter zu profitieren, wenn erst einmal Putin weg vom Fenster ist. Der kann sich doch bestimmt auch etwas schöneres vorstellen, als auf seine alten Tage noch ewig Chef einer Söldnerarmee bleiben zu müssen. Wer von euch kann am besten Süßholz raspeln und das Blaue vom Himmel herunter versprechen? Du da, Märchenonkel, los, geh’ telefonieren. Hier hast du Prigoschins Nummer.

Zwar würde ich lieber nicht glauben, daß sich Prigoschin vom Feind hat kaufen lassen, aber ausschließen kann ich es deswegen nicht. Wen muß schon interessieren, was ich lieber nicht glauben würde? Unstrittig ist jedenfalls , daß Prigoschins “Marsch der Gerechtigkeit” auf Moskau eine schwere Schwächung Russlands in sehr ernsthaften Zeiten darstellt – und daß alleine deswegen schon Zweifel am behaupteten Patriotismus Prigoschins erlaubt sein müssen. Es ist schwer vorstellbar, daß es für ihn partout keinen anderen Weg gegeben haben soll, mit seinen Bedenken und seinem Unmut angemessen Gehör zu finden. Es ist schlicht nicht denkbar, daß Wladimir Putin nicht gewusst haben könnte, wo Prigoschin der Schuh drückt. Es ist auch nicht denkbar, daß im Kreml die Verdienste der “Wagner-Gruppe” geringeschätzt worden sein könnten.

Ob es einem daher gefällt oder nicht: Es bleibt kaum etwas anderes übrig, als von schwerstem Verrat zu reden. Es wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Wagner-Gruppe in die reguläre Armee zu überführen und so dem Kommando von Shoigu und Gerassimow zu unterstellen. Das war dort übrigens schon länger gefordert worden. Wenn Prigoschin keinen extrem ausgefuchsten Plan für seine persönliche Sicherheit hat, dann dürfte es in den kommenden Tagen um ihn geschehen sein. Der Marsch auf Moskau läuft noch in diesen Minuten. Was will man machen, außer abwarten und Tee trinken.? Die nächsten 48 Stunden dürften die entscheidenden sein. Es ist eine Tragödie, die sich da gerade zuträgt.

Update 20:26 Uhr: Prigoschin soll den Marsch auf Moskau vor einer halben Stunde  abgebrochen und zur Umkehr aufgerufen haben, während die ersten Wagner-Konvoys die Vororte Moskaus bereits erreicht haben, u.a. mit dem S 300 -System im Gepäck.  Prigoschins Sinneswandel soll auf eine Intervention von Weißrusslands Lukaschenko zurückzuführen sein. Es bleibt trotzdem spannend.

 

 

 

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