Benjamin Netanyahu empfängt die Erleuchtung - Foto: Imago

Benjamin Netanyahu: Das Versagen von Mr. Sicherheit

Israel gibt es nach allgemeinem Verständis deshalb als den “jüdischen Staat”, um den Juden nach 2.000 Jahren andauernder Verfolgung endlich eine sichere Heimstatt zu garantieren. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Juden in Israel heute sicherer sind als irgendwo anders, wie die Bilanz von Benjamin “Mr. Sicherheit” Netanyahu aussieht – und vor allem, was die Hamas damit zu tun hat.

von Max Erdinger

Es ist eine Illusion, zu glauben, daß Leute, die Israelis hassen und ihr Land am liebsten vernichten wollen, dann ein für allemal verschwunden wären, wenn erst einmal die Hamas ausgelöscht worden wäre. Abgesehen davon, daß man nicht wissen kann, wann die Hamas als ausgelöscht zu bezeichnen wäre: Es hängt nicht daran, wie sich die Feinde Israels nennen. Eine “Hamas II”, um hier eine willkürliche Bezeichnung zu wählen, wäre vermutlich schnell gegründet, solange es noch eine nennenswerte Zahl an Palästinensern gibt. Die Israelis sind im Nahen Osten nicht von Freunden umgeben, sondern höchstens von Völkern, die Israels militärische Stärke fürchten. An diesem Punkt bereits stellt sich die Frage, ob die Israelis tatsächlich so stark sind, wie man gemeinhin unterstellt – es gibt amerikanische Militärexperten, die das bestreiten – und zweitens steht fest, daß die militärische Macht Israels stark an der bedingungslosen Unterstützung durch die USA hängt. Wehe, diese bedingungslose Unterstützung fiele jemals weg und die israelischen Nachbarn würden davon Wind bekommen. Sie würden über Israel herfallen wie die Hyänen und ein wesentlicher, weil am wenigstens weit zurückliegender Grund dafür wäre der aktuell laufende Völkermord an den Palästinensern und die dabei begangenen Kriegsverbrechen.

Da nun nichts ewig währt auf Erden, ist also die Frage, ob die Devise “Macht durch Stärke” ein inhärentes Verfallsdatum hat. Danach sieht es nämlich aus. Und zwar nicht nur in Israel, sondern gerade auch bei der israelischen Schutzmacht, den USA. Daß die USA wiederum keinerlei Hemmungen haben, ihre gestrigen “Verbündeten & Partner” heute fallen zu lassen und sich ganz auf ihre eigenen Interessen zu konzentrieren, wenn es nichts mehr zu gewinnen gibt, ist der historische Regelfall. Oder, wie sogar Henry Kissinger einst einräumte: Die USA zum Feind zu haben, ist gefährlich. Sie zum Freund zu haben ist allerdings tödlich. Auch die Macht des “American Israel Council For Public Affairs” (AIPAC), das den US-Kongreß sowohl über Republikaner als auch Demokraten weitgehend unter Kontrolle hat, wird nicht ewig währen. Ein zunehmend größerer Teil der amerikanischen Zivilgesellschaft wendet sich mit Abscheu von Israel und dessen Unterstützern ab. Die USA und auch die EU sind nicht zuletzt wegen ihrer Unterstützung des Völkermords im Gazastreifen zunehmend isoliert in der internationalen Staatengemeinschaft. Aktuell verlassen bereits so viele Israelis mit doppelter Staatsbürgerschaft wie nie zuvor ihre “sichere Heimstatt” im Nahen Osten. Sie ist ihnen auf lange Sicht zu unsicher geworden. Trotz Benjamin “Mr. Sicherheit” Netanyahu? – Nein. Sie ist ihnen wegen Benjamin “Mr. Sicherheit” Netanyahu zu unsicher geworden.

Rückblende

Im Jahr 2007 gab es ein Treffen des US-Botschafters Richard Jones mit dem Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, Amos Yadlin. Das Gespräch der beiden Herren wurde dokumentiert. Das Dokument wiederum wurde als Verschlußsache klassifiziert. Geleakt wurde es dennoch.

Dokument Yadlin Jones
Gespräch Yadlin / Jones 2007 – Screenshot YouTube / Johnny Harris

Wie der amerikanische Filmemacher, Journalist und YouTuber Johnny Harris (*1988) in diesem Video ausführt, war Thema des Gesprächs der Iran, Syrien, der Gazastreifen und die Hamas. Die Hamas hatte damals gerade die ersten und bislang einzigen demokratischen Wahlen in Palästina gewonnen, was zu einer kämpferischen Auseinandersetzung mit der Fatah führte. Die endete damit, daß die Hamas den kompletten Gazastreifen übernahm und kontrollierte. Für Israelis oder auch für US-Bürger war das eine schreckliche Entwicklung, denn die Hamas forderte nichts weniger als die Vernichtung Israels. Die Hamas gilt einigen als Befreiungsorganisation, jedoch waren die Grenzen zur Terrororganisation von Anbeginn an fließend. Tatsächlich beging die Hamas scheußliche Verbrechen gegen israelische Bürger schon vor dem 7. Oktober 2023. Jedeoch gab es jemanden, der überhaupt nicht entsetzt war über den Wahlsieg der Hamas: Amos Yadlin. Der damalige Chef des Militärgeheimdienstes, General der israelischen Luftwaffe und israelischer Militärattaché in Washington: “Daß die Hamas den Gazastreifen übernommen hat, ist günstig für uns, weil die IDF den Gazastreifen dadurch wie einen Feindstaat behandeln können.”

Dokument Yadlin Jones2
Yadlin / Jones – Screenshot YouTube / Johnny Harris

Das passt zu einer Strategie, die israelische Ultrarechte seit Jahrzehnten verfolgen, um einen der umstrittensten Konflikte der Welt für sich zu entscheiden, bei dem es um die Herrschaft über ein- und dasselbe “heilige Land” geht. Sie schaffen sich mit Absicht die Feinde und deren Angriffe, die sie ihrer überlegenen Waffenstärke wegen dann im Zuge einer “notwehrhaften Verteidigung” in der Art einer Salamitaktik peu a peu aus dem “heiligen Land” verdrängen. Die fortschreitende Besiedlung des Westjordanlandes mit israelischen Bürgern dokumentiert den Erfolg dieser Strategie sehr gut. Internationale Proteste gegen diese Vorgehensweise müssen die Israelis wenig scheren, da sie schließlich die Rückendeckung der USA haben. Das schien für eine relativ kurze Zeitspanne zu funktionieren, nur: Die langfristige Sicherheit der Israelis hat das nicht erhöht, sondern verringert, wie zuletzt der furchtbare Angriff vom 7. Oktober 2023 bewies. Die Gewalt in Israel nahm nicht ab, sondern zu. Zugleich will Israel aber eine “sichere Heimstatt” für das “jüdische Volk” sein. Daß sich Israel nach dem Ende des Völkermords und der Einstellung seiner Kriegsverbrechen im Gazastreifen 2023/2024 und angesichts der totalen Verwüstung dort jemals noch in eine “sichere Heimstatt” für die Juden verwandeln könnte, ist nur unter der Bedingung denkbar, daß sich das Land in den übelsten Polizei-, Sicherheits- und Überwachungsstaat der Erde verwandelt. Bewaffnete Militärs allüberall im Straßenbild, Überwachungskameras überall, Bespitzelung allerorten und Dokumentierung jeder einzelnen Bewegung im Land. Eine schöne “sichere Heimstatt”, das. Wer würde in einem solchen Gebilde nicht “sicher leben” wollen? Ohne das alles wird aber ein unbeschwertes Leben in Israel ebenfalls nicht möglich sein, da ab diesem Jahr feststeht: Ein Moment der Schwäche reicht, um den nächsten Angriff heraufzubeschwören. Auf das Land kollektiv, auf den einzelnen Israeli individuell. Langfriststrategisch betrachtet bauen die israelischen Ultras das nächste “Judengefängnis” also selber.

Daß die Sicherheit der Juden in Israel langfristig jedoch nicht mit dem Konzept “Dominanz durch überlegene Feuerkraft” zu garantieren sein würde, dämmerte vielen Israelis spätestens nach der ersten Intifada ab 1987. Irgendwie mußte ein Frieden mit den palästinensischen Arabern geschaffen werden. Einer, der diesen Ansatz verfolgte, war der israelische Premierminister Jitzchack Rabin. Es gab dann beispielsweise das Abkommen von Oslo und etliche andere. Alles nicht nach dem Geschmack der israelischen Rechten, die sich in ihrem – und nur in ihrem – “gelobten Land” wähnten und es in seiner vollen Größe als “Eretz Israel” wiederhergestellt sehen wollten. Die international anerkannten Staatsgrenzen Israels interessierten sie dabei nicht. Folgerichtig begriffen sie Jitzchak Rabin dann als einen Verräter an ihrer Sache – und ebenso folgerichtig fiel Rabin dann im Jahr 1995 dem Attentat des jüdischen Extremisten Jigal Amir zum Opfer, einem Anhänger Netanyahus.

Mann der gespaltenen Zunge

Benjamin Netanyahu ist ein Mann der gespaltenen Zunge. Er weiß, wie er international reden muß – und was er seinen Freunden in Israel erzählen darf. Es gibt ein Video von Netanyahu, das ihn bei einem Besuch von Siedlern im Westjordanland zeigt. Netanyahu dachte, die Kamera sei aus, als er zugab, höchstselbst den Oslo-Friedensprozess seiner Amtsvorgänger mit den Palästinensern und das entsprechende Abkommen in die Tonne getreten zu haben. Er wollte ohnehin seit eh und je jede palästinensische Autonomie und jede Landvergabe an die Palästinenser verhindern. Seiner Überzeugung nach würde ein palästinensischer Staat die Sicherheit für die Israelis nicht erhöhen, sondern veringern. Er ist überzeugt, daß es mit den Palästinensern keinen Frieden geben kann. Außerdem ist er davon überzeugt, daß die Feindschaft zwischen der Hamas im Gazastreifen und der Fatah im Westjordanland nur gut für Israel sein kann, weil die Palästinenser dadurch gespalten bleiben. Resultat aktuell: Würden die Palästinenser im Westjordanland heute wählen, wäre dort die Fatah weg vom Fenster und die Hamas ebenfalls “an der Macht”. Soviel “Macht” es eben geben kann für Palästinenser im gelobten Land.

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Netanyahu “nichtöffentlich” – Screenshot YouTube / Johnny Harris
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Netanyahu “nichtöffentlich” – Screenshot YouTube / Johnny Harris

Um nun die Palästinenser zu Gewalttaten zu provozieren, führte Netanyahu bei seinem Besuch im Westjordanland aus, müsse man ihnen das Leben so schwer wie möglich machen, so schwer, daß sie es kaum noch aushalten könnten. Folgerichtig und leider auch zynisch war daher, daß Netanyahu – Yaldins Logik folgend – noch 2019 erklärte, die Hamas zu unterstützen sei der sicherste Weg, die Entstehung eines Palästinenserstaates zu verhindern. Das Bargeld wurde von Israel aus angeblich bündelweise in den Gazastreifen getragen, um die Hamas zu jener Gefahr heranzuzüchten und hochzurüsten, die es dann erlaubt, mit maximaler Brutalität zurückzuschlagen. Unzweifelhaft fest steht am heutigen Tag, daß die “Eretz Israel”-Fraktion seit dem 7. Oktober 2023 durch die weitgehende Vernichtung der Infrastruktur im Gazastreifen ihrem großen Ziel wieder ein Stück näher gekommen ist, oder aber glaubt, ihm ein Stück näher gekommen zu sein. Schon werden in New Jersey von israelischen Grudstücksmaklern “Beach Front Properties” im nördlichen Gazastreifen zum Kauf angeboten. “Real Estate Developers” zeigen bereits Pläne für prächtige Strandresidenzen. Jared Kushner, Schwiegersohn von Donald Trump, liebäugelt mit einem Kauf.

Rote Linien?

Was den geplanten Einmarsch nach Rafah an der Grenze zu Ägypten angeht, auf welchem Netanyahu ganz unbedingt besteht, bekommen allerdings die amerikanischen Unterstützer der “Eretz Israel”-Fraktion allmählich kalte Füße und hätten mit ihrer vorherigen Unterstützung des “Kampfes gegen die Hamas” am liebsten nichts mehr zu tun. Eine Invasion in Rafah wäre endgültig “too much”, eine rote Linie, sozusagen. So jedenfalls tönt es in Washington. Die Grenzstadt Rafah hatte noch am 6. Oktober vergangenen Jahres etwa 250.000 Einwohner. Mit den Flüchtlingen aus dem nördlichen Gazastreifen, die dort unter unbeschreiblichen Bedingungen in Zelten hausen, ist Rafah inzwischen zu einer 1,25 Millionen-Stadt geworden. Der “Kampf gegen die Hamas” war nie mehr als ein medientauglicher “Kampf gegen die Hamas”, sondern der Kampf gegen ein selbst aufgeblasenes Monster, das lediglich als Instrument zur Verschleierung der eigenen, langfristigen Pläne diente. Nach 30.000 Gemeuchelten und über 70.000 z.T. schwerst Verletzten, zwei Drittel davon palästinensische Frauen und Kinder, steht heute fest: Die Palästinenser sind die Allerletzten, die vom Terrorangriff des 7. Oktober 2023 “etwas gehabt” hätten. Es stellt sich auch zwangsläufig die Frage, ob die Hamasführung tatsächlich die vermeintlichen Interessen der Palästinenser vertreten hat – und ob die Topfunktionäre auf diese Weise zu ihren privaten Milliardenvermögen gekommen sind. Wenn nicht, wie dann?

Was bleibt jetzt noch an Möglichkeiten? Wenn der begonnene Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen resp. die ethnische Säuberung des Gazastreifens nicht radikal bis zum Ende durchgezogen werden, so daß nach dem bereits laufenden Massenmord noch immer 2-3 Millionen Palästinenser übrig bleiben, die wie nie zuvor auf Rache sinnen, dann diente das ganze Vorgehen mitnichten der Sicherheit jüdischen Lebens in seiner “Heimstatt Israel”. “Frieden in Sicherheit” sind dort spätestens seit dem 7. Oktober 2023 endgültig gar unmöglich geworden. Benjamin “Mr. Sicherheit” Netanyahu wäre ein Politversager von historischer Größenordnung, einer, der seinem Land vielleicht dienen wollte, das Land und seinen Ruf aber stattdessen ruiniert hat. Derlei Figuren gibt es in der Geschichte recht zahlreich. Netanyahu ist die Personifizierung des Aufstiegs und des Falls einer zynischen Sicherheitsdoktrin, die nie eine gewesen ist. Das ist nicht nur für die Israelis insgesamt eine Tragödie, sondern hauptsächlich für alle Hinterbliebenen der Mordopfer einer durch und durch zynischen “Sicherheitsstrategie”. Auch auf palästinensischer Seite. Unterdessen wird die Aufklärung des Sicherheits-Totalversagens am 7. Oktober immer dringender. Wie war das noch mit den Warnungen in den Tagen und Wochen vorher und dem unwirschen Beiseiteschieben derselben? Weshalb waren die Sicherheitskräfte im Lande von “Mr. Sicherheit” Netanyahu nicht in Alarmbereitschaft? Kam der Terrorangriff wirklich überraschend?

Unterdessen spalten sich die Konservativen in der “Westwertewelt” in solche, die noch immer “I Stand With Israel” skandieren und nach Rechtfertigungen für Völkermord und Kriegsverbrechen suchen, wo es keine geben kann einerseits – und solche, die sich genau deshalb zutiefst angewidert von Israel abwenden andererseits. Das ist das nächste Drama. Eine der brillantesten Konservativen in den USA, Candace Owens, wurde von dem Israelfan Ben Shapiro, der sich dadurch als widerlicher Hypokrit outet, dem sein Engagement für die freie und unzensierte Rede nur so lange am Herzen lag, wie er selbst innerhalb der Konservativen keinen Widerspruch dulden musste, beim sehr erfolgreichen “Daily Wire” hinausgemobbt. In Deutschland haben bestimmte “Konservative” keinerlei Hemmungen mehr, gegen andere Konservative genau dieselben Methoden anzuwenden, die sie beklagt hatten, als sie von der Linken gegen sie selbst angewendet wurden: Etikettierung, Diffamierung, üble Nachrede. Konservative bezeichnen andere, konservative Israelkritiker oder Netanyahukritiker als “Antisemiten”! Es ist f*cking unfassbar, welches Verhalten so mancher “Linkengegner aus Prinzip” bei seinen vermeintlich wahrheitssuchenden Freunden entdecken muß: Einen Präferenzutilitarismus, der demjenigen der notorischen Linken in nichts nachsteht. Es gibt also “Konservative”, denen Zynismus, Völkermord und Kriegsverbrechen gar nichts ausmachen, solange nur die einen “Richtigen” die Täter und die anderen “Richtigen” die Opfer davon sind. Aber “Werte” verträten sie nach wie vor? Hat man noch Worte?

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