Eine der Hauptfolgen des globalen politischen Mummenschanzes, der uns seit 14 Monaten heimsucht, ist die Ab- und Übernutzung des Begriffs “Pandemie” und sein Bedeutungswandel infolge inflationären Gebrauchs. Nicht nur hat auch der Klimawandel das Zeug zur “Pandemie”, wie Markus Söder vor einigen Wochen wissen ließ: Auch andere weltweit auftretende, allgegenwärtige Infektionen sind nun offenbar alles “Pandemien”. So auch Aids.
Es scheint eine Frage der neuen “Aufmerksamkeitökonomie” zu sein, von der neudeutsch so gerne und oft die Rede ist: Um im öffentlichen Diskurs wahrgenommen zu werden und die eigenen Themenschwerpunkte angemessen im Orkus der Alarmismen plazieren zu können, wird in der dauerüberreizten Panikgesellschaft das entsprechende Labeling zum A und O. Das hat auch Virologe Hendrik Streeck erkannt, dessen ursprünglicher Forschungsschwerpunkt eigentlich das HI-Virus und Aids war, bevor der dann in der Corona-Krise zum gefragten Experten und einer Art Drosten-Antipode mit wohltuend nüchterner Attitüde aufstieg. Und genau hieran will Streeck jetzt anknüpfen: Er beklagt, dass HIV auch in Deutschland nur mehr ein “untergeordnetes Thema” und das politische Interesse an der Forschung “in diesem Feld gering” sei.
Das Bestreben ist natürlich aller Ehren Wert, den Deutschen nach und nach wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass es da draußen jede Menge Infektionskrankheiten und sonstige tödliche Gebrechen gibt, die um viele Größenordnung gefährlicher und bedrohlicher sind als ein Virus, das derzeit gerade noch 0,01 Prozent der Deutschen betrifft (und diese auch noch weitestgehend symptomfrei) – und HIV ist nur eine von vielen Viruserkrankungen, die weltweit nach wie vor ein massives Problem darstellen; auch wenn Aids in den reichen Ländern infolge verfügbarer teurer Therapien weitgehend beherrschbar ist, so sterben jährlich viele hunderttausend weltweit daran (2018 waren es etwa 690.000 Menschen).
Eine Frage der Relationen
Streeck, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Bonn, moniert gegenüber dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland” (RND), man sehe nun, dass “der Druck bei Corona ein ganz anderer ist und Fördergelder locker gemacht werden können“, während dies bei anderen ebenso dringlichen gesundheitlichen Herausforderungen anders gehandhabt wird. Er hoffe weiterhin darauf, dass es irgendwann einen Impfstoff gegen Aids/HIV geben könnte. “Die mRNA-Technologie, die hinter den Impfstoffen von Biontech und Moderna steht, könnte grundsätzlich auch bei HIV funktionieren“, sagte der Wissenschaftler dem RND. “Verzeichnen wir erste Erfolge, wäre das fantastisch.” Er hofft, dass Aids irgendwann geheilt werden könne.
Das setzt allerdings eine Neubewertung von Dringlichkeiten und eine Rückkehr zur Verhältnismäßigkeit voraus – denn ein Staat, der alle anderen Seuchen, Krankheiten und Todesursachen krankhaft ausblendet, weil er nur noch in einem willkürlich herausgeschälten, zur Pandemie ausgerufenen Virus die eine Zivilisationsbedrohung erkennt, vernachlässigt zwangsläufig andere Forschungs- und Behandlungsgebiete. So habe die Wissenschaft bei HIV “etwas Fundamentales noch nicht enträtseln” können, wie Streeck den Forschungsstand zusammenfasst – und weil Aids wie viele andere Herausforderungen – “unter ferner liefen” rangiert, wird dies wohl auch noch dauern.
Eindämmungsstrategien wie bei Corona
Streeck versucht daher behutsam, die Politik für HIV zu resensibilisieren – und nimmt deshalb begriffliche Anleihen bei Corona: “Zur Zeit bleiben uns die Medikamente als Mittel der Wahl, die Pandemie einzudämmen.” Mit “Pandemie” meint er hier, wohlgemerkt, Aids. Alles, was für dringlich und Priorität erklärt wird, bezeichnet man heute eben einfach mal als Pandemie – und schon steigt die öffentliche Aufmerksamkeit: Was man bei Corona gelernt habe, könne “erfolgreich sein, wenn man weltweit gegen das Virus gleichermaßen” vorgehe. Bei Eindämmungsstrategien zeigten die Erfahrungen mit Corona, wie wichtig Gebote statt Verbote sind. “Die Menschen müssen bei der Bekämpfung von Pandemien mit ins Boot geholt werden, damit sie selbst aktiv Infektionen vermeiden“, so der Professor.
Abgesehen davon, dass uns bei Corona vor allem Verbote (und eben nicht “Gebote”) zu schaffen machen: Muss nun also mit dem Panikinstrument “pandemische Notlage” auch bei HIV ein Regime begründet werden, damit Streeck & Co. hier wissenschaftlich besser vorankommen? Aus seiner Sicht wohl schon: Streeck träumt sogar schon von einer Ausweitung des Test-Wahns auch auf HIV. “Ein Instrument sind bei Corona wie auch bei HIV regelmäßige Selbsttests.” Wie haben wir uns das vorzustellen: Vor jedem Geschlechtsverkehr einen Analabstrich unter Aufsicht? Safer Sex, der neben Kondomen auch noch Teststreifen umfasst? Wenn Gesundheitspolitik irgendwann wieder einmal ohne Alltagsbevormundung, ohne Freiheitseinschränkungen und ohne übergriffige Wissenschaft auskäme, wäre wahrlich viel gewonnen. (DM)