Deutschland: Von der De-Industrialisierung zur Re-Industrialisierung?

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Zukunftsmarkt Robotik: Eine der künftigen Schlüsselsparten der Industrie, wo für Deutschland noch Hoffnung besteht. Wenn… (Symbolbild:Imago)

Es ist unbestreitbar: Deutschland befindet sich in einer veritablen Rezession. Die deutsche Wirtschaft wird aus Sicht des Internationalen Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr um 0,5 Prozent schrumpfen. Mit dieser Einschätzung, die vom 10. Oktober datiert, hat der IWF seine Prognose nochmals erneut nach unten korrigiert; nach Auffassung derDeutschen Bank erlebt Deutschland zur Zeit sogar eine “Double-Dip”-Rezession. So bezeichnen Ökonomen ein tückisches Konjunktur-Muster: Eine Volkswirtschaft gerät in eine Rezession, erholt sich daraus scheinbar, fällt dann aber erneut in den Abschwung zurück. Ein solcher doppelter Aufschlag ist in Deutschland zu beobachten. Das Bruttoinlandsprodukt war bereits in den Winterquartalen 2022/23 geschrumpft. Im Frühjahr hatte sich die Wirtschaft etwas stabilisiert. Nun folgte der neue Abschwung.

Eine „Double-Dip”-Rezession ist deshalb so unangenehm, weil ihr ein starker psychologischer Effekt zugesprochen wird: Der Rückfall in eine Rezession verunsichert vor allem viele Verbraucher. Das um geschätzte rund 5 Prozent geschrumpfte Weihnachtsgeschäft 2023 des Einzelhandels spricht hier eine deutliche Sprache.

Beispiellose Insolvenz- und Abwanderungswelle

Zurzeit wird Deutschland von einer Insolvenzwelle selten gekannten Ausmaßes überflutet, zudem verlagern viele namhafte deutsche Unternehmen ihre Produktion ins Ausland. Hier nur einige wenige Beispiele:

  • Bosch: Der Automobilzulieferer hat angekündigt, bis 2025 rund 10.000 Stellen in Deutschland abzubauen und Teile seiner Produktion nach Osteuropa, Asien und Südamerika zu verlagern.
  • Siemens: Der Technologiekonzern hat in den letzten Jahren mehrere Werke in Deutschland geschlossen oder verkleinert und stattdessen in Ländern wie China, Indien, Mexiko und den USA investiert.
  • Adidas: Der Sportartikelhersteller hat 2022 seine letzte deutsche Schuhfabrik in Ansbach geschlossen und die Produktion nach Asien ausgelagert, wo er bereits 97 Prozent seiner Produkte herstellt.
  • Continental: Der Reifenhersteller hat 2022 sein Werk in Aachen mit 1.800 Beschäftigten geschlossen und die Produktion nach Rumänien, Ungarn und Slowakei verlagert.
  • Viessmann: Das hessische Familienunternehmen verkauft – zumindest den größten Teil – in die USA. Der Klimaanlagenhersteller Carrier Global aus dem US-Bundesstaat Florida übernimmt die dominierende Heiz- und Klimatechniksparte von Viessmann.

Bei diesen Firmen handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommt, dass auch noch vor allem unzählige kleinere mittelständische Firmen verkleinern oder aufgeben. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Somit kann man ohne jegliche Übertreibung zumindest vom Beginn einer Deindustrialisierung in Deutschland sprechen.

Ein Teufelskreis

Es erübrigt sich, hier nochmals die Gründe für diese Deindustrialisierung aufzuzählen. Dazu sind schon viele Beiträge geschrieben worden. Jedoch lohnt es sich, den Fokus auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu werfen. Neben den bekannten Gründen für die fatale Entwicklung – aus ideologischen Motiven (Klima-Agenda) oder grotesken Fehleinschätzungen (Russland-Sanktionen) verursachte selbstschädigende  Energie- und Steuererhöhungen, Fachkräftemangel und so weiter – leidet die Wirtschaft vor allem unter der hohen Inflation. Damit verbunden sind die Abschlüsse der Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern, die wiederum auf die Erzeugerpreise durchschlagen. Dies wiederum kommt der momentanen Regierung nicht ungelegen, werden doch dadurch mittels höherer Mehrwertsteuer und erhöhter Progression zusätzliche Mittel in die klamme Staatskasse gespült. Andererseits bedeuten die steigenden Zinsen nicht nur für die Staatskasse, sondern auch für ganze Branchen wie das Baugewerbe kaum kalkulierbare Zukunftsrisiken.

Diese Verteuerung beeinträchtigt zudem die Absatzchancen auf dem Weltmarkt und belastet somit zusätzlich die noch immer exportorientierte Wirtschaft. Als ob dem nicht schon genug des Ungemachs wäre, kommt mit der – zurzeit eher schrägen und anachronistischen – Forderung nach der 32-Stunden-Woche der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) ein zusätzlicher Faktor ins Spiel, der die Komplexität nochmals erhöht. Schon heute leidet die Bahn unter Zugausfällen wegen Personalmangel. Wie soll denn da eine 32-Stundenwoche noch gestemmt werden? Betrachtet man diese gesamtwirtschaftliche Situation nun aus einer übergeordneten Position, so kommt man nicht darum herum, festzustellen: Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem circulus vitiosus, einem Teufelskreis.

Wirtschaftslenker im Tiefschlaf

An dieser Stelle müsste hier nun die übliche Schimpftirade auf die Dilettanten der Ampelregierung erfolgen. Der Schreibende erspart sich dies, obwohl er dieser Tirade vollumfänglich zustimmen würde. Vielmehr ist es absolut notwendig, auch einmal einen Blick auf die Wirtschaftsführer zu werfen; dies im Speziellen auf die Gurus der Automobilindustrie: Über viele Jahrzehnte war Deutschland das Automobilland Nr. 1 auf der Welt, der unbestrittene Weltmarktführer, und die Automobilindustrie war die Schlüsselindustrie in Deutschland schlechthin! Jedoch scheint es, als ob diese Erfolgsstory die Verantwortlichen in den Tiefschlaf versenkt oder ihren Verstand beeinträchtigt hat: Sie haben sich in Abgastricksereien und den damit verbunden juristischen Scharmützeln dermaßen verheddert, dass der Markt ganz einfach verschlafen wurde.

Heute hinken sie in den Zukunftsbereichen der Elektromobilität gnadenlos hinter her – weil sie sich vor allem politisch-planwirtschaftlich orchestrierten Standards wie der Akku-/Batterietechnik verpflichtet haben und andere vielversprechende Ansätze nicht weiter verfolgt haben. Seit 1998 liegen bei Mercedes die Patente für die Brennstoffzelle auf Halde und haben den Schlaf des Gerechten geruht. Erst als die Konkurrenz mit fertigen Produkten auftrat, bemerkte man die Perlen im eigenen Portfolio – viel zu spät. Inzwischen muss man erkennen, dass die E-Mobilität gerade durch die grüne Energiewende in Deutschland zum historischen Rohrkrepierer zu werden droht, während infolge des EU-weiten Verbrennerverbots in bereits 11 Jahren die bislang dominierende, durch deutsche Ingenieurskunst einst zur Perfektion getriebene Technologie – die anderswo auf der Welt weiter kräftig boomt – mutwillig zum Auslaufmodell gemacht wurde. So ist die deutsche Industrie vom einstigen Leader zum “Me-too”-Anbieter degeneriert, mit Billigung und unter  Mitverantwortung der eigenen Bosse. Absolut kein Ruhmesblatt für diese sogenannten Wirtschaftskoryphäen!

Verhaltene Zuversicht – unter bestimmten Voraussetzungen…

Und nun, pünktlich zum Jahresende, ertönen plötzlich Schalmeienklänge, die den Pegel auf dem gedachten „Depressometer“ zumindest einige Ticks zurückdrehen: In einem vielbeachteten Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 24. Dezember spricht der Verwaltungsratspräsident der ABB, Peter Voser, von einer absehbaren Reindustrialisierung Europas. ABB, der zweitgrößte Roboterbauer der Welt, der unter anderem auch in Deutschland seine Roboter produziert, sieht Europa in Sachen Automation und künstlicher Intelligenz in einer Vorreiterrolle. Auf die Frage des Standortnachteils auf Grund der höheren Produktionskosten antwortet Voser: “Hier spielen die Automation, die Robotik und die künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle. Dank diesen Technologien können wir heute in Europa fast so günstig produzieren, wie das früher nur in asiatischen Ländern mit tiefen Löhnen möglich war. Eine gewisse Re-Industrialisierung Europas ist also absehbar – ohne dass die Fabrikation massiv teurer wird. Das führt dazu, dass Europa für seinen Heimmarkt wieder vermehrt selbst produziert. Das sind immerhin über 500 Millionen Menschen. In Europa muss ohnehin etwas geschehen, weil die Bevölkerung altert und mit ihr die Fachkräfte. Wir müssen in den nächsten 10 Jahren in Europa etwa 50 Millionen Menschen im Arbeitsmarkt ersetzen. Einen Teil dieser Entwicklung kann man durch Immigration auffangen, das meiste aber durch Automation. Dazu kommt, dass die Problematik der Lieferketten entfällt.

Auch wenn Voser in seinem Interview ausschließlich von Europa spricht, ist der primäre Adressat seiner Worte klar: Deutschland. Mehr als 1,7 Milliarden Euro werden von ABB in Deutschland pro Jahr erwirtschaftet; zudem verfügt Deutschland mit seiner Robotik-Industrie (Kuka, ABB, Siemens, Bosch, Festo und weitere) sowie den Entwicklungsstandorten für künstliche Intelligenz und Sensorik über die besten Voraussetzungen, um in diesem zentralen Zukunftsbereich einer möglichen Reindustrialisierung die Marktführerschaft zu übernehmen. Es zeichnet sich ab, dass sich dieser Bereich der Industrie zur zentralen Schlüsselindustrie entwickeln wird. In seinem Interview äußerte sich Voser bezüglich des zurzeit laufenden Subventionswettlaufes der Länder wie folgt: „Niemand investiert nur wegen Subventionen oder anderer Anreize in einen Markt. Das macht man nur, wenn man langfristig an diesen glaubt. In Europa und in den USA haben wir uns zu lange auf globale Lieferketten verlassen. Das war ein Fehler der Industrie der letzten 20 oder 30 Jahre, den wir jetzt korrigieren müssen.

Deutschlands Chancen im kommenden Standortwettbewerb

Dieses Interview mit einem der derzeit wichtigsten Wirtschaftsführer, das solche ungewohnt positiven Signale aussendet, zeigt, dass es ein Licht am Ende des Tunnels geben könnte und dass durchaus der Weg zu einem Wiedererstarken der deutschen Industrie offensteht. Gleichzeitig aber – dies zeigt auch die wiederholte Erwähnung des Wortes “Europa” anstelle eines oder mehrerer konkret benannter Länder – weist Voser darauf hin, dass sich hier ein Standortwettbewerb anbahnt und noch etliches zu tun ist für den, der in diesem zu den Gewinnern zählen möchte. Also muss sich speziell Deutschland fragen, was es tun muss, um hier die Spitze zu besetzen. Dass ausgerechnet die gegenwärtige Bundesregierung mit ihrer katastrophalen Wirtschafts-, Energie- und Haushaltspolitik hierfür die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen kann, ist eine Illusion.

Um es vorwegzunehmen: Sich nur auf Subventionen oder Steuergeschenke und dergleichen zu verlassen, ist blanker Unsinn, wie Vosers kluge Darlegungen aufzeigen. Vielmehr ist es absolut notwendig, die – in der oben übersprungenen Schimpftirade enthaltenen – Mängel zu beseitigen. Dazu gehört vor allem, dass an der Spitze des deutschen Wirtschaftsministeriums wieder Sachverstand und Vernunft Einzug halten; eine politische “Fachkraft” also von Schlage eines Ludwig Erhardt wäre wünschenswert. Da jedoch eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, wäre es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man das Regierungskabinett insgesamt sinnvoller aufstellt. Die Aufteilung von Schlüsselpositionen nach Geschlecht, Herkunft oder Parteimitgliedschaft sollte unerheblich sein. Das einzige Kriterium für einen Kabinettsposten sollte künftig sein, dass die am besten qualifizierte Person den Job übernimmt. Dieses System wird in den USA schon seit Jahren so praktiziert. Da werden bei demokratisch geführten Regierungen auch mal Mitglieder der Republikaner mit Ministerposten betraut und umgekehrt, oder es werden parteilose, anerkannte Experten berufen. Diese Offenheit im Dienste der Sache wäre eine absolut sinnvolle und notwendige politische Innovation – und eine gute Voraussetzung, um den notwendigen Turnaround in Deutschland noch irgendwie zu schaffen. Und wer hier einwirft, dies sei groteskes Wunschdenken, dem sei erwidert: Zum Jahreswechsel wird man ja wohl noch träumen dürfen!

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