Die Uhr tickt - Foto: Von Fer Gregory/Shutterstock

Israel und der Horror: Reicht’s allmählich?

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Grauenhafter Terrorangriff aus dem Gazastreifen heraus am 7./8. Oktober. 1.400 bestialisch ermordete Israelis. Etwa 200 Israelis als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Die zivilisierte Welt ist auch zwei Wochen danach noch erschüttert wie schon lange nicht mehr. Ist das so?

von Max Erdinger

Heute ist der 23. Oktober. Das Unbeschreibliche geschah vor zwei Wochen. Noch immer tauchen in den sozialen Netzwerken Fotos einzelner Opfer auf. Es wird erzählt, wer sie waren und was sie beruflich getan haben. Das Bild einer Jahresabschlußfeier in einem israelischen Kindergarten. Alle fröhlich, alle lachen. Alle tot, schwer verletzt oder verschleppt. Ein Meme, das ein Ortschild zeigt. Kibbuz Nir Oz, Einwohnerzahl am 7.10.23: 450. Einwohnerzahl am 8.10.23: 190. Was für ein unvorstellbares Verbrechen.

Kibbutz
“Kibbutz Nir Oz – Meme” – Screenshot Facebook

Die “Times Of Israel” vergangene Woche: Auf israelischem Territorium wurden die Leichen von 1.500 Terroristen gezählt. Wenn es stimmt: “Gut” so. Freilich ist hier gar nichts “gut”. Es ist furchtbar. Aber “wir” wissen wenigstens genau, wer verantwortlich für das Grauen ist. Es sind die, die “wir” sowieso noch nie leiden konnten. “Die” kriegen jetzt endlich ihr Fett ab. Aber so richtig. Das war überfällig. Ist das so?

In den vergangenen beiden Wochen ist viel passiert. Vor allem im Gazastreifen, wo die Terroristen hergekommen sind. Der UN-Konvention zu Völkermord und dem Genfer Abkommen zu Kriegsverbrechen zufolge passiert dort genau das: Ein Völkermord und ein Kriegsverbrechen. Es interessiert “uns” nicht sonderlich. Die Bomardierten sind absolute Unsympathen. Es ist ein gerechter Völkermord und es ist ein gerechtes Kriegsverbrechen. Ist das so? Was für eine lästige Frage. So lästig ist sie, daß “wir” sie gar nicht stellen wollen. Was hilft uns dabei, rechtzuhaben? Noch ein Foto eines israelischen Opfers von vor zwei Wochen. Noch eine Biographie eines ausgelöschten Lebens.

Das Kind auf dem untenstehenden Foto ist kein Opfer unseres unbestechlichen “Sinnes für Gerechtigkeit”. Es ist kein israelisches Kind. Es ist ein palästinensisches. Dieses Kind hat verdient, was es jetzt durchmachen muß. Doch, doch, doch …

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Kein Opfer: Kind im Gazastreifen – Foto: Screenshot Facebook (KI?)

Herr Professor Rieck erklärt “uns”, warum die israelische Regierung “vermutlich nicht” Bescheid wusste von einem bevorstehenden Terrorangriff der Hamas. Der ägyptische Geheimdienst erklärt, daß die israelische Regierung darüber Bescheid wusste, daß etwas im Busch gewesen ist. Der Vorsitzende des Außenausschußes im US-Repräsentantenhaus, Michael McCaul, behauptete dasselbe wie der ägyptische Geheimdienst. Gut, daß es Herrn Professor Rieck gibt. Kaum jemand spricht davon, daß sowohl Hamas als auch IS und Al Qaeda vom “Wertewesten” ins Leben gerufen worden sind. Es mag schon sein, daß die israelische Regierung nicht wusste, was für ein Ausmaß das “dicke Ding” hat, vor dem sie gewarnt worden war, und daß sie vom Ausmaß des Terrorangriffs überrascht gewesen ist. Daß sie von gar nichts eine Ahnung gehabt habe, halten CIA-Leute für unmöglich. Netanyahu 2019: “Wer einen Palästinenserstaat verhindern will, der muß die Hamas finanzieren.”

Dafür weiß ein französischer Journalist etwas. Er kennt die neuesten, grausamen Details vom 7. Oktober. Das müssen “wir” lesen. Damit wir wieder wissen, welche Alten, Kranken, Frauen und Kinder im Gazastreifen gerechterweise hungern, dursten und bombardiert werden müssen. Völkermord und Kriegsverbrechen müssen schon sein, manchmal. Hauptsache gerecht. Doch, doch, doch. Bilder davon wollen “wir” gar nicht sehen. Geschichten über palästinesische Einzelschicksale wollen “wir” gar nicht lesen. Das könnte eventuell “unseren” Gerechtigkeitssinn irritieren.

Daß im Jahr 2010 israelische Soldaten neun Personen an Bord der “Mavi Marmara” erschossen hatten, welche die Seeblockade vor Gaza durchbrechen wollten, um dort Hilfsgüter – keine Waffen! – anzulanden, was war das? Absolut gerecht war das. Gar keine Frage. Seeblockaden sind das beste. Wer sie durchbricht, um Hilfsgüter bei den total unsympathischen Palis abzuladen, darf schon erschossen werden. Die besten Seeblockaden nützen aber nichts, wenn man nicht auch den Luftraum über einem Gebiet kontrolliert, aus dem man sich – um des lieben Friedens Willen, selbstredend – fünf Jahre vorher zurückgezogen hat. Die Israelis sind 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen. Das war eine nette Geste, oder nicht? Ein Hundsfott, wer da behauptet, es ließe sich mit einem Gebiet, aus dem sich die eigenen Leute zurückgezogen haben, ganz anders umspringen als vorher. Überhaupt “Israel”, diese monolithische Entität: Nur die Besten, die Anständigsten, die Humanistischsten und die Freundlichsten sind dort versammelt. Wahre Engel, ausnahmslos. Deswegen “standen wir” ja auch gleich ohne viel Federlesens mit ganz “Israel”, nicht umständlich mit diesen Israelis schon, mit jenen aber nicht. “Israel” passt schon. Da weiß man schließlich, was man hat. Ganz “Israel” ist ein Synonym für “gut & edel”. “Uns”, den “gerade-wir-als-Deutschen”, erleichtert so viel Klarheit das Leben ganz ungemein, weil wir gern schnell zu einem Urteil kommen. Wir urteilen ja auch gern. Und am allerliebsten erzählen wir jedem, wie “wir” geurteilt haben, damit auch jeder weiß, was für famose Charaktere “wir” erst haben. “Wir”! Wenn “wir” urteilen, daß wahre Engel durchaus einen Völkermord nach UN-Definition und ein Kriegsverbrechen nach dem Genfer Abkommen begehen dürfen, dann haben “wir” einfach recht! So dermaßen gut und gerecht sind “wir”.

Da ist es schon hilfreich, wenn “wir” auch zwei Wochen später noch mit den Details zu dem grauenhaften Terrorangriff vom 7./8. Oktober “informiert” werden. Doch, doch, doch. Information ist schon wichtig. Aufhetzen würden “wir” uns schließlich niemals lassen. “Wir” würden niemanden auf unseren Emotionsknöpfen herumdrücken lassen. Weil “wir” nämlich zivilisiert sind. Hat man ja schon bei den Russen gesehen. Wenn jemand wusste, welcher Dirigent rausgeschmissen gehörte und welche Operndiva Auftrittsverbot erhalten musste, wo man den russischen Wodka hinschütten muß – in die Kanalisation nämlich – dann wissen “wir” heute natürlich genauso gut, welche palästinesische Autorin und Preisträgerin von der Buchmesse ausgeschlossen werden muß. “Wir” irren uns nämlich nie. Und höflich sind “wir” sowieso, wie das untenstehende Foto beweist.

Bombe
“Wie in der letzten E-Mail angekündigt” – Screenshot Facebook

Nein, nein, “wir” hassen niemanden. “Wir” doch nicht. “Wir” sind eben traurig und arg betroffen von der Schlechtigkeit der Unsympathen. Weil “wir” einfach so unbeschreiblich “menschlich” sind. “Wir” sind nur gerecht. Und “wir” sind um so viel zivilisierter als diese Terroristen. Doch, doch, doch, sind wir. Wenn das hungrige und durstige Kind im Gazastreifen das nicht begreifen will, dann ist es eben ein dummes Kind. Bombe drauf und gut isses. Es gibt gute und es gibt schlechte Kriegsverbrechen. Zeit, den Vereinten Nationen mal Bescheid zu stoßen, damit sie dort wissen, wo sie sich ihre dreckspalästinenserfreundlichen Definitionen zum Völkermord hinstecken können. Genf könnten “wir” eigentlich auch gleich mitbombardieren. Ich meine, wenn dort solche israelfeindlichen Abkommen geschlosssen werden? Ja hallo? Das geht doch nicht? Ich als “gerade-wir-als-Deutscher” lasse mir doch von irgendwelchen verkommenen Subjekten nicht einreden, daß sich unter den Nachkommen meiner historischen Lieblingsopfer auch völlig gewissenlose, selbstgerechte und verabscheuungswürdige Individuen tummeln könnten? Solche etwa, die als Verteidigungsminister ihren Soldaten zusichern, sie hätten freie Hand, weil es keine Militärgerichtsbarkeit für sie geben wird. Das steht mir doch auch gar nicht zu! “Völkermord” … “Kriegsverbrechen” … la-la-la … was für’n Quark.

Jetzt mal ehrlich, meine lieben “With Israel Stander”: Zwei Wochen nach dem bestialischen Terrorangriff auf die Israelis graust es mir vor euch inzwischen so wie vor den Terroristen. Habt ihr sie eigentlich noch alle? Wisst ihr eigentlich, was mit “Israel”, mit dem ihr so undifferenziert “standet”, passieren wird, wenn die dortigen Hasardeure so weitermachen wie geplant? Dann wird es in spätestens zwei Jahren kein Israel mehr geben, mit dem “wir standen” könnten. Weil euch und den dortigen Hasardeuren zwei Jahre vorher euer “Gerechtigkeitsdurst” den Verstand vernebelt hatte. Und es ist noch nicht einmal sicher, daß “wir” das in zwei Jahren selbst noch mitbekommen werden. Die Hütte brennt! Und zwar nicht nur in Israel und im Gazastreifen, sondern global. Wißt ihr, wie ich mir vorkommen müsste, wenn ich vor lauter Rachedurst so am Zündeln wäre wie ihr und eure – und nur eure – monolithische Entität namens “Israel”? – Saumäßig blöde müsste ich mir vorkommen. “I Stand With Israelis” – mit den meisten, nehme ich an, den zivilisierten, aber keinesfalls mit allen. Und genau deshalb  mit euch ebenfalls nicht. Ohne mich!

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