So ein Jammer. Ich wäre gerne dabei gewesen. Am 10. November ist wieder Gedenken. Reichspogromnacht 1938. Viele anständige Menschen treffen sich von 14 bis 15 Uhr in Berlin auf dem Platz vor dem Kanzleramt zur Mahnwache für Israel gegen Antisemitismus. Und nun das: Ausgerechnet am 10. November habe ich keine Zeit.
von Max Erdinger
Gedenken ist schon wichtig. Aber nicht so wichtig, als daß ich mir leisten könnte, die Arbeit liegen zu lassen. Ich muß dringend Russen verfolgen. Und Ungeimpfte. Querdenker auch. Oppositionelle und Dissidenten sowieso.
Auch wenn ich selbst nicht dabei sein kann, so wünsche ich doch allen Teilnehmenden und Teilnehmend:innen ein recht erhebendes Gemeinschaftserlebnis. Als guter Deutscher habe ich mich jedoch entschieden. Einfach war das nicht. Gewissenkonflikte, Sie verstehen? Es gibt bestimmt noch irgendwelche russischen Dirigenten oder russische Opernsängerinnen im Land, die nicht anständig verfolgt worden sind. Ich verstehe mich jedoch als Vertreter der legendären deutschen Gründlichkeit. Traditionspflege geht vor. Und die Tradition gab es schon vor 1938. Garantiert gibt es noch irgendwo russischen Wodka, den noch keiner in die Kanalisation gekippt hat. Der ganze russische Zupfkuchen ist auch noch nicht umetikettiert worden. Noch immer gibt es auch russische Transit-Touristen im Land, denen noch niemand das Auto weggenommen hat, deren Armbanduhr, deren Reisekoffer und das Handy niemand konfisziert hat. Und russische Läden gibt es auch noch, bei denen niemand die Schaufensterscheiben eingeworfen – oder mit der Spraydose wenigstens kluge Parolen darauf hinterlassen hat. Auch russische Schulkinder laufen immer noch frech umher, die noch nicht anständig gemobbt oder gar verprügelt worden sind. Ich werde sie alle finden und aus ihren Verstecken ziehen. Das muß leider alles ausgerechnet am 10. November geschehen, weil ich mir den 11. November bereits für die Ungeimpften vorgemerkt habe, den 12. und den 13. für die gräßliche Opposition, die Dissidenten und die gottverdammten Nonkonformisten.
Für den 14. November habe ich bereits einen Flug gebucht. Nach Zypern. Von dort geht es mit einem U-Boot rüber in den Gazastreifen. Dort werde ich den lieben “die Juden” beim Völkermord helfen und Kriegsverbrechen begehen. Aus Solidarität, nämlich. Dieses ganze UN-Trallala und das bescheuerte Genfer Abkommen interessieren mich nicht die Bohne. Helfen muß man schließlich. Von den über zwei Millionen palästinensischen Zivilisten, Frauen und Kindern haben schließlich erst ungefähr 8.000 bekommen, was sie verdient haben. Da geht noch was im Namen der Gerechtigkeit und der Menschenrechte.
Es tut mir wirklich leid. Ich wäre so gern dabei gewesen am 10. November. Weil Gedenken schon wichtig ist. Wenn man so richtig inbrünstig Gedenken gemacht hat, fühlt man sich gleich viel besser. Ich nehme es eben auf mich, auch wenn der Verzicht hart ist. Nein, dankt mir nicht. Gedenkt Ihr ruhig. Alles in Ordnung. Ihr seid die Besten. Noch viel besser als ich. Aber ein paar Gedanken wollte ich euch noch mitteilen, bevor ich leider nicht dabeisein werde.
Kampf dem Antisemitismus!
Warum ist euer Kampf gegen den Antisemitismus so wichtig, ihr lieben Gedenkenmacher, ihr hochanständigen? Weil das auserwählte Volk ganz furchtbar diskriminiert wird. Und übel nachgeredet wird ihm. Es ist eine Schande. Ja, auch heute noch. Da staunt ihr, wie? Bei den Moslems gibt es Sunniten, Schiiten, Ismaeliten und Aleviten, bei den Christen gibt es Orthodoxe, Katholiken und Protestanten, aber die Juden dürfen immer nur aus den “die Juden” bestehen. Das war schon 1938 so. Immer, immer, immer waren die Juden völlig unterschiedslos nur “die Juden”. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Antisemit! Die solchen müssen ganz dringend bekämpft werden. Gut, die Juden in Israel hätten sich noch vor drei Monaten fast einen Bürgerkrieg geliefert, Jude gegen Jude, wegen Netanyahus Schleifung der Gewaltenteilung per Justizreform – und daß sie rigoros als Versuchskaninchen für mRNA-Impfstoffe mißbraucht worden sind, hat auch vielen “die Juden” nicht gefallen. Mit Netanyahus Hardcore-Juden in der Regierungskoalition haben es etwa die Hälfte der Juden in Israel nicht so besonders. Und Jitzchak Rabin ist 1995 sogar von einem dieser “die Juden” erschossen worden. Aber was soll’s. Sie sind trotzdem alle nur “die Juden”. Ihr Gedenkenmacher seht da völlig klar. So klar wie die Verfolger der Juden im Jahre 1938. Gegen “die Juden” und für “die Juden”. Das macht sowohl die Verfolgung als auch die Solidarität mit den “die Juden” so einfach. Nachteil und Vorteil zugleich. Keine andere Religion eignet sich so vorzüglich zum Zeichensetzen. Anständige “die Menschen” setzen gerne Zeichen. Viele. Für die anderen, die Unanständigen.
Wollt ihr mal eine richtig unanständige Person kennenlernen? – Shelly Steinberg heißt sie.
Diese unanständige Frau, diese Shelly Steinberg da, die hat gefälligst nicht recht zu haben. Wo kämen wir denn hin, wenn wir über ihre – wie sagt man? – “kruden Thesen” auch noch nachdenken wollten? Die ist dran, wenn ich mit den Russen und ihren frechen Kindern durch bin. Russen in Deutschland – ja, wo kommen wir denn hin? Am 12. oder am 13. ist die fällig! Man kann sich schließlich nicht alles bieten lassen.
Da fällt mir ein: Kennt ihr den alten Rundstedt noch? Gerd von Rundstedt? Generalfeldmarschall der Wehrmacht und Oberbefehlshaber West. Der hatte nach der Landung der Alliierten in der Normandie ein Problem mit französischen Partisanen. Schnell hatte der die Nase voll von diesen Partisanen, den gräßlichen, und was soll ich sagen – Oradour sur Glane ist heute eine Gedenkstätte. So sieht das aus dort, heute am 2. 11. 2023. Seit dem Juni 1944 wurde dort alles so gelassen, wie die gerechten Mannen von Rundstedts es hinterlassen haben. Die Bewohner eines ganzen Orts haben sie massakriert.
Wie’s wohl kam? Hier der feine Herr Generaldfeldmarschall von Rundstedt im O-Ton vom 8. Juni 1944: ” Zur Wiederherstellung von Ruhe und Sicherheit, sind schärfste Maßnahmen zu ergreifen, zur Abschreckung der Bewohner dieser dauernd verseuchten Gebiete, denen endlich die Lust vergehen muss, die Widerstandsgruppen aufzunehmen und sich von ihnen regieren zu lassen, und zum warnenden Beispiel für die gesamte Bevölkerung. Rücksichtslose Härte ist in diesem kritischen Augenblick unerlässlich, um die Gefahr im Rücken der kämpfenden Truppe zu beseitigen und größere Blutopfer der Truppe und in der Zivilbevölkerung für die Zukunft zu verhüten.” – Naaa? Wo haben wir denn das sinngemäß nochmal gehört? Noch nicht lange her, oder? Ich glaube, im Nahen Osten irgendwo, klang es neulich ganz ähnlich. Wo war das nur, wo war das nur? – Na egal. Jetzt ist erst einmal Gedenken am 10. November, gell? Es gibt ja auch allen Grund, recht besinnlich zu werden. Der alte von Rundstedt ist nach dem Krieg übrigens wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden, vor der Urteilsverkündung allerdings an Herzschwäche verstorben. Das war 1953. Doch, doch, Gedenken. Durchaus auch – gemeinsam! – mit den Hetzern gegen die Ungeimpften, den Hetzern gegen die Opposition, den Zensoren und Gesinnungsterroristen und diesen vorbildlichen Russenverfolgern. Hauptsache, schön “Gedenken machen”.
Jetzt schaut euch mal das nächste Bild an. Da könnt ihr sehen, wie richtig ihr liegt. Das sind diese kollektiven “die Juden” bei der UN im Sicherheitsrat. Was haben die da an ihrer Brust? – Judensterne. Damit man nicht übersieht, wer im Gazastreifen die wahren Opfer sind, Völkermord und Kriegsverbrechen hin oder her. Opfer der nächsten und übernächsten Generation, sozusagen.
Die UN-Abgesandten aus Israel hatten sich den Judenstern wahrscheinlich schon angeheftet, als ihre Regierung Waffen an die ukrainischen Nazis verschickt hat, damit die wiederum jene bösen Russen bekämpfen, die so dringend verfolgt werden müssen in Deutschland. Von den anständigen Gedenkenmachern. Sogar, wenn sie russische Dirigenten, weltberühmte Opernsängerinnen, Ladenbesitzer oder Schulkinder sind. Ein bißchen dumm gelaufen ist das nur insofern, als daß die Ukronazis einen ausgesprochenen Judenschlächter als ihren Volkshelden verehren, den Stepan Bandera. Sie gedenken seiner sogar. Gedenken, Gedenken. Na ja, vielleicht hatten die ewig Rechthabenden auf dem Bild hier oben auch keinen Judenstern angeheftet, als sie Selenskyj und den ihn kontrollierenden Azow-Brigaden sowie dem ganzen anderen, brutal verkommenen Nazigeschmeiß in der Ukraine (Myrotsvorets) die Waffen aus Israel geschickt haben. Obwohl der natürlich auch bei jener Gelegenheit eine gewisse Gerechtigkeitswirkung gehabt hätte. Wer kann es schon wissen? Wer weiß, ob die Ukronazis Gonzalo Lira inzwischen gekillt haben. Im Lager.
Jedenfalls: Wer einen Judenstern an der Brust trägt, ob freiwillig oder unfreiwillig, der ist für alle Zeiten und über Generationen hinweg ein Opfer und nie der Täter, ganz egal, ob er gerade einen Völkermord und ein Kriegsverbrechen begeht oder nicht. Mit einem Judenstern steht man heutzutage einfach über allem. Gut, daß man es weiß. Dann kann man es auch nutzen. Das wird auch im Jahr 3.000 noch so sein. Doch, doch, da müssen wir schon schön “Gedenken machen” am 10. November, am deutschen Protzmahnmal. Weil wir schließlich aus der Geschichte gelernt haben, nicht wahr? Wer wahrheitswidrig behauptet, daß sich auch unter den “die Juden” ganz finstere Gestalten tummeln könnten, so, wie bei allen anderen auch, der ist einfach ein Antisemit. So einfach ist das. Antisemit darf bei uns in Deutschland keiner sein. Auto- und rolexbesitzender Transit-Russe auch nicht. Oder Querdenker. Oder Impfgegner. Oder “rechts”. Nicht nur der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sondern der Gedenkenmacher ebenfalls. Bravo, Bravo, Bravo! Und jetzt: Viel Erfolg am 10. November in Berlin! Ihr werdet euch hernach wie die Heiligen fühlen. Versprochen.
Eigentlich ist es so: Was geht ihr deutschen Zeichensetzer mir auf den Geist! Dieses selbstgerechte Gewinsel im Gutmenschentonfall muß man sich mal genau geben: “Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft erklären öffentlich: „Nie wieder ist jetzt!“ – la-la-la, wir haben uns alle lieb und mordsgescheit sind wir außerdem. Die Moral haben wir. Wir, und sonst niemand. Wir wissen Bescheid. – “In Zeiten von steigendem Antisemitismus ist das nicht genug.” Der Holocaust ist eine Mahnung, der uns folgendes lehren muss: Es ist gut, „Nie wieder ist jetzt!“ zu sagen, aber noch wichtiger ist es, dass wir aktiv werden und unseren Worten Taten folgen lassen.” – Wenn das eigenbauchpinselnde Gedenken vor dem Kanzleramt bei salbungsvollen Gedenkreden keine Worte sind, sondern Taten, ach was – Großtaten! Heldentaten! – , dann weiß ich aber auch nicht. Meine Fresse, ihr seid sowas von die Guten, daß mir kotzübel wird. Ihr werdet die Toten noch auferstehen lassen in eurer egozentrischen Allmacht. Ganz sicher.
Äh, Moment, da muß wohl wieder dieser antisemitische Dämon von mir Besitz ergriffen haben. Es tut mir wirklich leid. Das ist mir gerade nur so herausgerutscht. Gnade! Ich habe es nicht so gemeint. Stellt euch einfach im Kreis auf, fasst euch an euren Patschhändchen und singt ein trauriges Liedchen, während ihr braven Gedenkenmacher des absoluten Horrors gedenkt. Mit Blockflötenbegleitung. Und denkt daran: Der wahre Selbstgerechte weint nicht. Er weint nicht!! Erstrecht nicht, wenn es um 3.000 palästinensische Kleinkinder geht, die ermordet worden sind. Nie und nimmer! Die haben bekommen, was sie verdient haben. Der Selbstgerechte darf nur über ermordete “die Juden” weinen. Eine saumäßige Wut auf die Mörder der palästinensischen Kleinkinder darf er nicht haben. Nie und nimmer. Weil das nicht anständig und überhaupt nicht menschlich wäre. Die Menschlichkeit der Selbstgerechten ist die allermenschlichste von allen. Guter Völkermord, schlechter Völkermord. Kumba ya, my Lord, kumba ya …