Seit klar ist, dass den Opfern der Ahrtal-Flut vom 14./15. Juli 2021 nicht einmal minimale Gerechtigkeit widerfahren wird, haben die verzweifelten Angehörigen und Hinterbliebenen das Vertrauen in die deutsche Justiz verloren. Vor, während und nach der Katastrophe wurden sie von einer inkompetenten und verantwortungslosen Politik im Stich gelassen. Dagegen protestieren sie am Wochenende mit einer bewegenden Aktion, die den Verantwortlichen der Mainzer Landesregierung unter Ministerpräsidentin Malu Dreyer eine stumme Anklage entgegenschleudert: Auf dem Rhein fuhren sie auf einem Schiff mit 135 weißen Puppen, stellvertretend für die (bei pflichtgetreuer politischer und behördlicher Handhabung der Krise durch rechtzeitige Vorwarnung und Prävention) vermeidbaren Opfer, nach Mainz.
Dem vorangegangen war ein neuer Tiefpunkt des deutschen Rechtsstaat mit seiner weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft und parteipolitisch unterwanderten Justiz, als die Staatsanwaltschaft Koblenz die Ermittlungen gegen Jürgen Pföhler, den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, und den von ihm benannten Katastrophenschutzbeauftragten wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung in 135 Fällen und der fahrlässigen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen einstellte. Bei der Flut habe es sich um eine „außergewöhnliche Naturkatastrophe“ gehandelt, deren Ausmaß für die Verantwortlichen im Landratsamt Ahrweiler in ihrem Ausmaß nicht vorhersehbar gewesen sei, so die ebenso lapidare wie moralisch erbärmliche Begründung für das Ende der strafrechtlichen Aufarbeitung. Zu groß war wohl die Sorge, dass im Zuge eines Prozesses nochmals das Versagen der Landesregierung in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt würde. Das kann vor allem die angezählte Malu Dreyer nicht gebrauchen.
Unsäglicher „Abschlussbericht“ der regierungshörigen Staatsanwaltschaft
Der Künstler Dennis Josef Meseg, der die Puppen mit mehreren Helfern aus alten Schaufensterpuppen hergestellt hatte, kritisierte, die Einstellung der Ermittlungen gegen Pöhler sei „ein Schlag ins Gesicht“ für die Angehörigen. In Mainz wollten sie Dreyer einen Brief übergeben, in dem sie den Rücktritt des Justizministers und die Veröffentlichung des 400-seitigen Abschlussberichts der Staatsanwaltschaft fordern. „Wir kennen zwar den Inhalt, dürfen ihn aber nicht freigeben. Wir finden, die Ergebnisse sollten allen Menschen im Ahrtal zur Verfügung stehen“, so Inka Orth, deren 22-jährige Tochter Johanna der Ahrtal-Flut zum Opfer fiel. „Der Abschlussbericht, den die Staatsanwaltschaft am Donnerstag vor einer Woche veröffentlichte, ist unsäglich“, so Orth weiter. „Wir können das nicht hinnehmen, wir müssen gegen diesen Justizskandal kämpfen, das geht gar nicht anders.“
Von Dreyer habe es noch immer kein einziges Wort zur Einstellung der Ermittlungen gegeben. Es sei „genauso wie damals am 14. Juli 2021, als sie sich einfach nachts ins Bett legte. Sie hat damals nicht reagiert, jetzt reagiert sie auch nicht“. Der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken, der neben den Orths noch weitere vier Nebenkläger vertritt, erklärte, wenn man den Abschlussbericht lese, kommen man „in großen Teilen zu der Erkenntnis, dass die Menschen im Ahrtal eigentlich selbst schuld an der Katastrophe waren“. Es sei „unsäglich wie hier argumentiert wird“, teilte er in einer Stellungnahme mit.
Frust über Vertuschung des skandalösen Versagens wächst
Im Ahrtal wächst die Wut über die Vertuschung der politischen Verantwortung für die Folgen der Flut immer weiter. „Bei einer Katastrophe dieser Dimension hätte wohl niemand fehlerfrei agiert. Aber gar nicht zu handeln, halte ich für keine Option. Von einem Landrat oder einer Landrätin erwarte ich, in einer solchen Lage vor Ort zu sein und das in der eigenen Macht Stehende für die Menschen zu tun.“ Dass die Ermittlungen „gegen den damals politisch-Verantwortlichen“ nun eingestellt werden, sei „für viele von uns Betroffenen wohl eine schmerzhafte Botschaft“, klagte die parteilose Landrätin Cornelia Weigand, die damals Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr war und seit dem frühen Nachmittag des 14. Juli 2021 stundenlang vergeblich versucht hatte, ihren Vorgesetzten Pföhler telefonisch zu erreichen, um ihn aufzufordern, umgehend Katastrophenalarm auszurufen.
Auch Guido Orthen, der Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler, äußerte sich „mehr als enttäuscht“ über die Entscheidung. Viele Menschen müssten nach wie vor den Verlust von lieben Menschen und Verletzungen an Leib und Seele tragen und ertragen“. Die Betroffenen hätten sich nicht zuletzt durch ein gerichtliches Verfahren eine sorgfältige Aufklärung der Geschehnisse des folgenschweren 14. Juli erhofft. „Eine andere Entscheidung der Staatsanwaltschaft wäre aus meiner Sicht ein wichtiges Signal für die Menschen der Region gewesen“, so Orthen weiter. Eine Friseurin aus Bad Neuenahr-Ahrweiler äußerte ihre Wut noch deutlicher. „Das ist einfach nur ekelhaft, dass das Verfahren eingestellt wird. Ich bin der Meinung, dass die Menschen zur Verantwortung gezogen werden müssen, die solche katastrophalen Fehler machen, auch wenn es im Nachhinein nichts mehr ändert“. Orth berichtet, dass sie und ihr Mann keine Akteneinsicht erhalten hätten.
Dreyers „paar Sätze des Mitgefühls“
„Das letzte Video unserer Tochter, das zeigt, dass sie nicht hinreichend gewarnt wurde, wurde nicht beachtet. Von der Pressekonferenz, auf der das Ergebnis der Ermittlungen verkündet wurde, haben wir aus den Medien erfahren. Mehr kann man nicht ignoriert werden“. Sie und ihr Mann haben Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz eingelegt. Sollte diese abgelehnt werden, bliebe nur noch der Weg eines Klageerzwingungsverfahrens beim Oberlandesgericht Koblenz. Da dieser extrem kostspielig ist, haben die Orths eine Spendenaktion gestartet.
Man muss davon ausgehen, dass all diese Versuche abgeschmettert werden. Der deutsche Staat übernimmt keine Verantwortung für die zahllosen Fehler und blanken Verbrechen, die seine Politiker anrichten. So ist es bei Corona, so wird es auch bei der Ahrtal-Flut sein.
Dreyer, die am Morgen nach der Flut ihren Mitarbeitern mitteilte, sie brauche „ein paar Sätze des Mitgefühls“ , weil ihr selbst offenbar keine einfielen, nachdem sie die Flutnacht friedlich schlummernd im Bett verbracht hatte und für niemanden zu erreichen war, klebt ebenso an ihrem Stuhl wie alle Politiker in diesem Land. Wahres Mitgefühl lässt sie auch heute vermissen. Der Begriff „politische Verantwortung existiert schon lange nicht mehr. Der Parteienstaat hat sämtliche Institutionen dieses Landes vollständig durchdrungen. Seine Mitglieder schützen und decken sich gegenseitig, die Bürger sind nur noch Verfügungsmasse und steuerliche Melkkühe. Die Angehörigen der Flutopfer werden aller Erfahrung nach nicht nur ihre Trauer bewältigen, sondern auch mit der Missachtung des Staates leben müssen. (TPL)