Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin, (hier bei "Markus Lanz" im ZDF) - Foto: Imago

Ulrike Guérot: «Wir in Europa sind selbst verantwortlich für unser Schicksal»

Die Schweiz müsse zwingend die Neutralität verteidigen und das internationale Staatensystem zurück auf die Linie der UN-Charta führen, sagt die deutsche Intellektuelle im Interview mit «Transition News».

Ein Beitrag von Transition-news.org

Ulrike Guérot ist ein Phänomen. Die deutsche Intellektuelle nimmt kein Blatt vor den Mund. Ob bei Corona oder zuletzt beim Krieg in der Ukraine: Regelmässig äussert sich Guérot kritisch zur Politik. Und muss dafür auch einiges einstecken.

Der politischen Gruppierung «Linksbündig» ist es diese Woche gelungen, Guérot ins Volkshaus nach Zürich zu holen. Dort diskutierte sie am Dienstagabend mit der Philosophin Tove Soiland von «Linksbündig» über die gegenwärtigen politischen Entwicklungen.

Guérot kritisierte dabei die «Entpolitisierung der Politik». Zu sehen sei dies insbesondere bei Themen wie Corona oder dem Klima: Heute gehe es bloss noch um Sachzwänge. «Ich halte es für hochgradig problematisch, dass wir uns die Politik haben nehmen lassen», sagte Guérot. Die Buchautorin plädiert dafür, dass die Bürger wieder das Zepter in die Hand nehmen. Transition News konnte nach der Veranstaltung ein Interview mit Guérot führen.

Transition News: Frau Guérot, beginnen wir mit einem Thema, das Ihnen am Herzen liegt: Europa. Sie sprechen sich gegen die EU-Technokraten aus. Sie machen sich für ein demokratischeres, ein dezentraleres Europa stark. Das real existierende Europa ist am Ende. Das sieht man nun auch im Krieg in der Ukraine. Der grosse Verlier ist Europa. Ist das grösste Problem heute nicht, dass die USA zu viel Macht ausüben über Europa, das längst nicht mehr souverän ist?

Ulrike Guérot: Immerhin tut sich was. Darüber wird gegenwärtig rege diskutiert. Ich denke da an Oskar Lafontaine: Er hat kürzlich das Buch «Ami go home» geschrieben. Inzwischen findet man eine Menge Literatur zu diesem Thema. Interessant ist: Sogar der sehr etablierte European Council on Foreign Relations (ECFR), für den ich früher gearbeitet hatte, hat kürzlich einen Beitrag dieser Frage gewidmet und auf die Vasallisierung Europas aufmerksam gemacht. Selbst in den etablierten Denkfabriken wird nun darüber gesprochen, dass der Ukrainekrieg zu einer «Vasallisierung» Europas geführt hat. Es gibt dazu jetzt eine Debatte und deren Ausgang ist offen.

Die Debatte ist überfällig…

Beflügelt hat sie jüngst auch der französische Präsident Emmanuel Macron. Anlässlich seines China-Besuchs sagte er dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, dass Europa sich nicht anderen Interessen dienlich machen dürfe. Für die europäischen Demokratien sind das zentrale, wichtige Debatten. Wenn wir das Ziel haben, ein souveränes, unabhängiges und emanzipiertes Europa zu schaffen, dann sind diese Diskussionen unerlässlich. Aber es gilt auch: Am Ende des Tages ist die Position «Wir sind das Opfer» immer falsch. Wir in Europa sind selbst verantwortlich für unser Schicksal. Was wir mit uns machen lassen, wie wir uns wehren: Das sind wichtige Fragen. Genau diese Debatte möchte ich gerne führen.

Diese Diskussion ist auch zentral für die Schweiz. Kritiker hierzulande werfen dem Bundesrat vor, dass er die Neutralität auf dem Altar einer NATO-Annäherung geopfert hat. Die Schweiz trägt den Wirtschaftskrieg gegen Russland mit. Am Donnerstag sprach der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski im Parlament. Was raten Sie der Schweiz?

Dafür einzustehen, wofür die Schweiz schon immer wichtig war: Nämlich für ihre Neutralität. Ich erinnere mich an einen Schlagabtausch im Rahmen der ZDF-Sendung «13 Fragen» mit Denis Yücel vom Mai 2022. Er empörte sich darüber, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) nach der russischen Invasion der Ukraine weiterhin an der Neutralität festhielt. Es sei jetzt sehr wichtig, Partei zu ergreifen, lautete seine Position. Ich entgegnete, dass das IKRK seit über 150 Jahren neutral sei. Und genau das sei auch sehr wichtig. Die Schweiz muss unbedingt an einer neutralen Position festhalten – wie sie es in der Vergangenheit auch getan hat. Zum Beispiel im Zuge der Iran-Contra-Affäre 1979. Die Welt ist doch angewiesen auf kleine Staaten, die damit eine gewisse Nische in der Aussenpolitik einnehmen. Hierzu ist die Schweiz prädestiniert. Denn wir haben ja sowieso nur wenige Staaten, die eine solche Rolle spielen können. Die Schweiz könnte auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir wieder zur UN-Charta zurückkehren. Wir können doch nicht immer von einer «regelbasierten Ordnung» sprechen. Sowieso weiss niemand genau, was das sein soll. Wir tun so, als ob es unsere Ordnung sei. Und dann verlangen wir, dass sich die ganze Welt an sie halten muss. Ums kurz zu machen: Die Schweiz sollte die Neutralität verteidigen und das internationale Staatensystem zurück auf die Linie der UN-Charta führen. Das wäre mein Ratschlag.

Bis heute zeigen Sie sich erstaunt, dass während Corona Judikative, Legislative und die Medien komplett versagt haben und ein Gleichschritt vorgeherrscht hatte. In ihrem Buch «Wer schweigt, stimmt zu» zitieren Sie mehrmals Julien Bendas Schrift «Der Verrat der Intellektuellen». Darin zeigte er, wie die Denker und Akademiker sich in der Geschichte schon immer an die Seite der Tyrannen gestellt hatten. Weshalb sind Sie vor diesem Hintergrund so erstaunt über das Versagen der Intellektuellen?

In der Tat haben sich auch in anderen Epochen in Deutschland wie anderswo Akademiker als besonders empfänglich für autoritäre Schliessungen erwiesen, wie wir sie in den letzten drei Corona-Jahren ansatzweise beobachten konnten. Im Nationalsozialismus etwa haben sich vor allem Ärzte die Rassentheorie anfangs zu eigen und sich damit zu Komplizen des Regimes gemacht. Ähnlich war es mit der Gerichtsbarkeit. Funktionseliten arrangieren sich meistens mit neuen Machthabern und das gilt leider auch für Teile der Wissenschaft. Stichwort Martin Heidegger. Insofern ist ihr Einwand berechtigt. Aber gerade weil die Bundesrepublik zum Beispiel über Jahrzehnte eine intensive politische Bildung betrieben und eine grosse Erinnerungskultur etabliert hatte, hat es mich dann doch überrascht bzw. das Versagen der Funktionseliten in dem Ausmass hat mich erschreckt. Wir reden hier von den Medien, der Gerichtsbarkeit, den Universitäten und dem Wissenschaftsbetrieb und man könnte auch die Kirchen nennen: Sie alle haben alle zum grossen Teil versagt. Das ist leider so. Das schreibe ich auch in meinem Buch. Es gab mit Blick auf die Corona-Massnahmen eine klare Linie, die das sogenannte Volk von den Eliten trennte.

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Ulrike Guérot (links) im Gespräch mit Tove Soiland. Foto: Rafael Lutz

War das nicht immer schon so?

Beim Thema Krieg war das in den letzten Jahrzehnten zumindest in der Bundesrepublik, aber auch in Frankreich oder Italien anders: In der Vergangenheit, zum Beispiel den 1970er Jahren, betrieben auch Funktionseliten Pazifismus, Friedens- und Entspannungspolitik. Politiker wurden gerade mit diesem Thema gewählt: Olaf Palme, Bruno Kreisky oder Willy Brandt zum Beispiel. Später, in den 1980er Jahren, sind dann die Grünen mit dem Friedensthema gross geworden und die damalige Führungsriege, Petra Kelly, Daniel Cohn-Bendit oder Joschka Fischer waren Akademiker. Sie machten sich für Abrüstung stark – bevor sich auch bei den Grünen die Pazifismus-Diskussion in den 1990er Jahren dann wendete. Heisst: Man kann das Ganze nicht einfach pauschalisieren. Bei ähnlich gelagerten Diskussionen wie dem Klima oder der Friedensbewegung wünsche ich mir manchmal die alten sozialliberalen Funktionseliten zurück – die Grünen der ersten Stunde oder die alten Sozialdemokraten wie Egon Bahr usw. Was sie alle vereinte: Sie übernahmen immer Verantwortung für Frieden, Umwelt und soziale Gerechtigkeit, erweitert auf den globalen Süden, Stichwort Entwicklungspolitik. Ich frage mich, wo sind solche Politiker eigentlich geblieben? Die sind jetzt um die 80 Jahre alt. Hier scheint eine starke Generationsdynamik am Werk zu sein, die eben auch die Gerechtigkeitsdiskurse völlig verändert hat. Das müsste man wirklich einmal genauer untersuchen. Warum ist es der erwähnten Generation nicht gelungen, den Aktivismus für Frieden, Umwelt und sozialen Ausgleich ihren Kindern zu übermitteln? Vor allem die letztere Debatte, die Soziale, kommt im Rahmen der ganzen identitären Diskurse ja heute kaum noch vor. Ich denke, das wäre eine interessante Aufgabe, das zu analysieren.

Hat es damit zu tun, dass die heutige Generation – die Generation Baerbock – den Krieg nicht mehr kennt und ihn damit wieder anschlussfähig machen kann?

Jacob Burckhardt sagte, dass jede Generation unmittelbar sei zu Gott. Ich glaube tatsächlich: Etwas, was man nicht erfahren hat, kann man auch nicht beurteilen. Dafür gibt es viele Anhaltspunkte. Man merkt eben erst, dass die Herdplatte heiss ist, wenn man sie anfasst. Für den heutigen Kriegsenthusiasmus mag das auch gelten, sonst könnte die Verherrlichung von Waffenlieferungen wohl nicht so funktionieren. Die kurze Antwort ist also: Möglicherweise ist das ein Grund, ja. Vielleicht ist es ein ewiger Kreislauf, wie in dem wunderschönen Lied von Pete Seegers: «Sag mir, wo die Blumen sind….»

Viele Bürgerinnen und Bürger haben heute kein Vertrauen mehr in die Regierung und die Medien. Wie sollen Sich die Bürger informieren? Wem kann man noch trauen?

Wichtige Frage. Wenn euch Nachrichten in der Süddeutschen Zeitung oder im Deutschlandfunk anöden, dann lautet mein Tipp: Folgt eurer Neugier.

Hören Sie den Deutschlandfunk?

Ich höre mir den Deutschlandfunk noch an. Aber nicht mehr wirklich, um mich zu informieren. Sondern eher deshalb, weil es mich interessiert, wie gerade über etwas berichtet wird und wie der Bias bzw. das Framing ist. Das heisst: ich bin auf der Metaebene, wenn ich auf die Presse schaue. Ich frage mich oft: «Wie können die die Nachrichten so schief bringen?» Mein Rat, den ich erteilen kann, lautet: Sich umgucken, Neugierde ist wichtig. Es gibt ein intuitives Gefühl, das jeder hat, wenn er etwas liest oder hört. Kommt es einem merkwürdig vor, klingt es plausibel, spricht es einen an? «Ich lese etwas, das macht mich neugierig, weil etwas formuliert wird, was ich selber denke.» Diesem Impuls nachzugehen, das ist zentral. Wichtig ist auch: Skepsis bewahren. Und sich selber mehr zu vertrauen, als irgendwelchen Leuten, die einem sagen, das sind komische alternative Medien. Die meisten Leute merken, was Blödsinn ist und hören dann selber auf zu lesen, einfach weil es sie nicht mehr interessiert – weil es sie nicht mehr neugierig macht oder nicht mehr plausibel ist. Also ich würde sagen: Selbstvertrauen, Bauchgefühl und Neugierde halte ich für das Beste, um in diesen Zeiten aus sich heraus informiert zu bleiben.

Wer die «falschen» Medien liest oder sich Argumente von den «falschen» Leuten zu eigen macht, wird rasch einmal diskreditiert. Schon Hans Magnus Enzensberger, den Sie zitieren, wusste aber, dass das Kontaktschuld-Argument kein Argument ist. Weshalb zieht es noch immer?

Es zieht immer weniger. Die Kontaktschuld muss weg. Natürlich bekomme ich das auch mit: Man darf z.B. nicht mit Hans-Georg Maassen in einen Topf geworfen werden und auch gegenüber mir gibt es immer noch Berührungsängste. So gesehen ist die Kontaktschuld immer noch im Raum. Aber ich habe auch den Eindruck gewonnen, dass die Diskussion sich inzwischen beruhigt bzw. die Masche durchschaubarer wird. Ich habe das Gefühl, dass wir die Diskussion gerade glätten. Allgemein habe ich das Gefühl: Immer mehr Leute durchschauen das Ganze. Und hier liegt auch die Hoffnung: Man kann die Kontaktschuld wie ein Gesellschaftsspiel bis zu einem gewissen Grad treiben, aber irgendwann ödet sich das aus. Insofern würde ich noch immer sagen: Mit der Kontaktschuld beginnt die Erosion der Demokratie. Letztere müssen wir aber unbedingt verteidigen. Deshalb muss die Kontaktschuld abgeräumt werden.

Zum Abschluss würde ich Ihnen gerne noch eine kritische Frage stellen: In einem Interview nannten Sie George Soros einen «linken Milliardär». Sie sagten, dass Sie sich wünschten, es gäbe mehr Reiche wie Soros. Wie kam es zu dieser Romantisierung eines Mannes, der bekannt dafür ist, Farbenrevolutionen zu unterstützen in Osteuropa?

Ich habe diese Frage satt inzwischen. Dazu ist in meinen Augen mittlerweile alles gesagt. Tempi passati. Man muss sehen: Die Zeiten ändern sich. Gewisse Dinge, die Soros in der Vergangenheit vorantrieb, unterstützte ich. Beispielsweise seine Analysen hinsichtlich der Bedeutung des Euros für die Zukunft Europas. Diese Anliegen habe ich geteilt. Soros hat auch «linke» Anliegen unterstützt. Er hat sich zum Beispiel für die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze engagiert. Deshalb sprach ich vom «linken» Milliardär. Das ist auch ein Teil von ihm.

Aber Soros hat auch noch eine andere Seite…

Klar: Diese wollte oder konnte ich vielleicht damals nicht wirklich wahrnehmen. Aber ich wiederhole mich: Tempi passati. Die Dinge ändern sich. Und ich ändere mich auch. Das ist Ying und Yang. Man kann in allem immer sowohl das Schlechte wie auch das Gute sehen. Soros hatte eben auch Anliegen gefördert, die ich prinzipiell als förderungswürdig empfand. Unter anderem im Bereich Bildung, wo er in Osteuropa viel gemacht hat. Auch hat er sich für Strukturen stark gemacht, um ein stabiles Europa zu schaffen. Dass man das 15 Jahre später anders bewerten kann und es damals wie heute Aktivitäten gab, die man kritisch beäugen kann bzw. muss – geschenkt. Und jetzt ist einmal Schluss mit Soros.


Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Autorin und Aktivistin in den Themenbereichen Europa und Demokratie, mit Stationen in Think Tanks und an Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington, Berlin und Wien. 2016 wurde ihr Buch «Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie» europaweit ein Bestseller. 2022 veröffentlichte sie bereits «Wer schweigt, stimmt zu», eine Analyse der deutschen Corona-Politik. Gemeinsam mit Hauke Ritz folgte 2022 zudem das Buch «Endspiel Europa».