“Zwischen Weltkrieg 2 und 3 drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte”

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Dichter Franz Werfel (1890-1945): Unheimliche Hellsichtigkeit (Foto:Imago)

Das Zitat der Überschrift, welches der jüdisch-deutschböhmische Schriftsteller und Lyriker Franz Werfel 1945, kurz vor seinem Tod, über die gerade militärisch niedergeworfenen Deutschen weissagte, erscheint rückblickend geradezu unheimlich prophetisch – nahm es doch präzise jenen kompensatorischen Wahn vorweg, in den die westdeutsche Gesellschaft im Zuge der “Vergangenheitsbewältigung” verfallen ist. Bei der nachfolgenden näheren Betrachtung dieses Zitats und seiner Hintergründe handelt es sich um einen Epilog aus der vom Autor herausgegebenen Merkel-Biographie “Die Kanzlerin, die aus der Kälte kam“.

Im Frühjahr 1943 nimmt Franz Werfel die Arbeit an seinem letzten Roman “Stern der Ungeborenen” auf und schließt das Werk zwei Tage vor seinem Tod, am 26. August 1945, ab. Es handelt sich um einen Zukunftsroman, in dem der Erzähler “F. W.” alias Franz Werfel eine Zeitreise in eine hunderttausend Jahre entfernte menschliche Zivilisation unternimmt und dabei von seinem Jugendfreund “B. H.” alias Willy Haas begleitet wird. Werfel entwirft – vor dem Hintergrund der eigenen Todesahnung und den Erfahrungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs – die Utopie einer zukünftigen Weltgesellschaft, die bereits den Dritten Weltkrieg hinter sich hat. Die “astromentale Gesellschaft‘ ist eine sterile Massengesellschaft, die auf den ersten Blick alle Unzulänglichkeiten früherer Generationen erkannt und durch geeignete Maßnahmen überwunden hat.

Keim der Zerstörung

Mit viel subtiler Ironie zeigt Werfel aber, dass auch in dieser vermeintlich idealen Gesellschaft die Schwächen der Menschen Bestand haben; den Keim der Zerstörung trägt auch die “astromentale Gesellschaft” in sich. Und so kommt es, allen Vorkehrungen zur Bewahrung des Friedens und zur Kompensation geschichtlicher Fehlleistungen zum Trotz, auch in der “astromentalen Gesellschaft” zu einem kriegerischen Umsturz, durch den die Herrscherklasse die Macht an ein rückständiges Normalvolk verliert. In seiner futuristischen Beschreibung reflektiert “F. W.” im fortwährenden Dialog mit “B. H.” auch sein eigenes Leben und sinniert über Politik und die Menschheit. Besondere Würdigung erfährt dabei die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts – und geradezu prophetisch sind die Beschreibungen, die Werfel für Deutschland „zwischen Weltkrieg Zwei und Drei“ bereithält:

Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes ‚Humanitätsduselei‘ kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre. […]”

Merkels raffinierte Bewirtschaftung des Wahns

Und weiter heißt es da: “Sie waren die Erfinder der undankbaren Ethik der ‚selbstlosen Zudringlichkeit‘. Zur Erholung hielten die Gebildeten unter den Heinzelmännchen philosophische Vorträge an Volkshochschulen, in protestantischen Kirchen und sogar in Reformsynagogen, wobei ihr eintöniges Thema stets der brüderlichen Pflicht des Menschen gewidmet war. Ohne Pflicht ging’s nicht, wie ja die deutsche Grundauffassung vom Leben in der ‚Anbetung des Unangenehmen‘ bestand. Sie waren, mit einem Wort, echte Schafe im Schafspelz. Da sie aber selbst dies krampfhaft waren, glaubte es ihnen niemand, und man hielt sie für Wölfe.

Werfel sagt damit präzise jenen kompensatorischen Wahn voraus, in den die westdeutsche Gesellschaft im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung verfallen ist. Es war genau dieser Wahn der „deutschlandhassenden Deutschen“, der von Angela Merkel und ihren Helfern raffiniert bewirtschaftet wurde und sich dann ab 2015 seine selbstzerstörerische Bahn brach. Der von Merkel eingeleitete “deutsche Sonderweg” wird auch nach dem Regierungswechsel des Jahres 2021 unbeirrt fortgesetzt. Wie geht es bei Werfel weiter? Er prophezeit schließlich die Auflösung der europäischen Völker und deren Verschmelzen zu einer Kontinentalnation. “Deutschland schafft sich ab”: Unter diesem Buchtitel diagnostizierte Thilo Sarrazin 65 Jahre nach Vollendung von Werfels Werk die gegenwärtige, sich seither noch beschleunigende Entwicklung. Als Überbringer der schlechten Nachricht wurde Sarrazin rasch verfemt; doch vergessen werden wir weder Sarrazin und Werfel – noch ihre Botschaften.

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