Von wegen “Judenhass”. Der Gegenkommentar zum Kommentar.
von Max Erdinger
Mehr als 1.000 schwedische Künstler, schrieb die “Welt”, hätten dafür plädiert, Israel vom “European Song Contest” (ESC) auszuschließen. Ein entsprechender Aufruf sei an die “Europäische Rundfunkunion” (EBU) ergangen. Auch Greta Thunbergs Mutter, Malena Ernman, habe den Aufruf mitunterzeichnet. Diese Meldung in der “Welt” nahm die von mir ansonsten sehr geschätzte Birgit Kelle zum Anlaß, einen Kommentar bei Facebook vom Stapel zu lassen. Jetzt ist sie ziemlich unten durch. So schnell kann es gehen.
” … Es wundert nicht wirklich, der Judenhass wird nicht nur in palästinensischen Kinderbüchern an die nächste Generation weitergereicht. Das schafft auch Bullerbü. Wenn der Eurovision Song Contest ESC hier einknickt, ist es nur noch ein Musikpreis der Schande. #StandWithIsrael”, schrieb Frau Kelle. Und das ist einfach aus mindestens zwei Gründen niederträchtig.
Erstens: Der Aufruf der Schweden hat mit Judenhass nicht das Geringste zu tun. Es gibt nicht nur in Israel jede Menge Juden, auf deren Protest gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen und im Westjordanland sich die Schweden berufen könnten, wenn sie das wollten oder müssten. Dieses Vorgehen ist es nämlich, dessentwegen der Aufruf, Israel auszuschließen, überhaupt erfolgt ist. Einige prominente Juden wären z.B. Prof. Jeffrey Sachs, Max Blumenthal, Aaron Matè, Norman J. Finkelstein oder Miko Peled, Sohn von Mattityahu Peled und Enkel von Avraham Katznelson, einem der Unterzeichner der israelischen Unabhängigkeitserklärung. Was will Frau Kelle denn Glauben machen? Daß Juden, die andere Juden heftigst kritisieren, Judenhasser seien? Und wenn nicht: Weshalb dann die genannten Schweden?
Zweitens: Frau Kelle weiß ganz genau, nach welchem Muster Diffamierungen heutzutage laufen. Sie wurde schließlich selbst schon mit Etiketten beklebt, anstatt daß man ihr argumentativ entgegengetreten wäre. “Mutterkreuzträgerin” war, glaube ich, eines dieser Etiketten. Wegen ihrer feminismuskritischen Haltung. Sie weiß, wie das läuft. Gerade deswegen ist es niederträchtig, alle Juden, ob linke, ob rechte, ob zionistische oder antizionistische, etatistische und antietatistische, religiöse und säkulare unterschiedslos zu instrumentalisieren für die unhaltbare Behauptung, die erbitterte Gegnerschaft zur Regierung Netanyahu und deren Vorgehen im Gazastrefen und im Westjordanland sei “Judenhass”. Nach allem, was ich von Frau Kelle kenne, kann mir keiner weismachen, daß sie unfähig zur Differenzierung sei. Allerdings setzt sie sich mit dem Hashtag “#StandWithIsrael” unnötigerweise dem Verdacht aus, es könnte so sein. Eine erbitterte Gegnerschaft zur Regierung Netanyahu mit “Judenhass” gleichzusetzen, ist einfach niederträchtig und gibt nichts weiter zu erkennen, als daß auch Frau Kelle dann, wenn es um ihre persönlichen Präferenzen geht, vor Diffamierung nicht zurückschreckt. Was will sie denn künftig ihren eigenen “Kritikern” vorhalten? Abgesehen davon ist es reichlich geisteslimitiert, “WithIsrael” zu standen “NoMatterWhat”.
Drittens: “Bullerbü”. Frau Kelle scheint völlig vergessen zu haben, in welchem Land sie selbst lebt. Deutschland ist nicht weniger “Bullerbü” als Schweden. Allerweil ist Deutschland wahrscheinlich sogar noch sehr viel mehr “Bullerbü” als Schweden. In welchem Land waren nochmal die Schildbürger angesiedelt?
Natürlich ist die Forderung nach einem Ausschluß Israels vom ESC nicht weniger dämlich als beispielsweise der Ausschluß Russlands von internationalen Sportveranstaltungen. Was können israelische oder russische Dissidenten und Oppositionelle für ihre jeweiligen Regierungen? Und weshalb würde man z.B. die Ukraine am ESC teilnehmen lassen, während man den Ausschluß Israels fordert? Würde sich an der israelischen Politik etwas ändern dadurch, daß man das Land nicht am ESC teilnehmen läßt? – Natürlich nicht. Worum geht es also wieder einmal, sowohl den Künstlerschweden als auch der Frau Kelle? – Um selbstreferentiellen Gesinnungsexhibitionismus, die generelle Geisteskrankheit des “Gefällt-mir-Wertewestens”. Das braucht kein Mensch.
Ansonsten: In Memoriam Ofra Haza (1957-2000). Ihre Version von “Im Nin’Alu” wurde in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre ein Welthit, auch ohne ESC. Mir gefiel das Lied damals und es gefällt mir heute noch. Ich habe es dieser Tage wieder ausgegraben, weil es soooo “Israel” ist. Israel liegt im Nahen Osten. Und Ofra Haza war im ärmsten Stadtviertel von Tel Aviv aufgewachsen.
“Ofra kam aus dem Slum und erreichte die Spitze der israelischen Kultur. Sie stand für alles, was gut und nobel in der israelischen Gesellschaft ist. Wir haben ihr sehr viel zu verdanken.”
– Ehud Barak in seiner Grabrede
1994 trat Haza bei der Friedensnobelpreisverleihung an Jitzchak Rabin, Schimon Peres und Jassir Arafat auf. Auch bei der Begräbniszeremonie von Rabin sang sie. (Quelle: Wikipedia)
Der wiederum war 1995 erschossen worden von Jigal Amir, einem jüdischen Fanatiker und Anhänger Netanyahus. Es soll auch Itamar Ben-Gvir gewesen sein, der heutige Minister für Nationale Sicherheit, der damals, ein paar Wochen vor dem Attentat auf Rabin, mit der abgebrochenen Kühlerfigur von Rabins Cadillac von einer Friedenskundgebung zurückkam, um zu verkünden, daß man Rabin auch noch “erwischen” würde. Von wegen “schwedischer Judenhass”. Das wäre nun wirklich unter Ihrer Würde gewesen, Frau Kelle.